# taz.de -- Konzertempfehlung für Berlin: „Ich habe in einer Amnesie gelebt�… | |
> Im Herbst erscheint Masha Qrellas erstes Album, in das sich auch deutsche | |
> Texte eingeschlichen haben. Mit ihrer Band ist sie am Sonntag im Lido zu | |
> Gast. | |
Bild: Mit ihrer EP „Keys“ als Vorboten im Lido zu Gast: Masha Qrella | |
Vor drei Jahren, kurz vor dem Erscheinen ihres federnden, irgendwie nach | |
der Leichtigkeit der Westcoast klingenden Popalbums „Keys“ durfte [1][Masha | |
Qrella] bei einer Tribute-Veranstaltung im [2][HAU] den Dramaturgen und | |
Autor Heiner Müller würdigen. Fünf Musiker*innen sollten im HAU einen Song | |
präsentieren. Den zu schreiben fiel der Berlinerin allerdings schwer, auch | |
die Lektüre von Müllers Texten brachte sie nicht weiter. | |
Bis die dann in einem Gedicht Textfragmente eines David Bowie-Stücks | |
wiedererkannte. „Day after day / They send my friends away / To mansions | |
cold and grey / To the far side of town / Where the thin men stalk the | |
streets / While the sane stay underground.“ Müller also zitierte munter aus | |
„All The Madmen“, mit dem Bowie 1970 wiederum seinen schizophrenen | |
Halbbruder Terry besungen hatte, und setzte die Zeilen mit seiner Antwort | |
in einen ganz neuen Zusammenhang: „Vielleicht werde ich alles überleben / | |
was ich geliebt habe und nicht geliebt / Frauen, Freunde, Gedanken / Day | |
After Day.“ | |
„Eine krasse Vorstellung“, erklärt Qrella im Interview, „dass Heiner Mü… | |
da in seinem Neubaublock in Lichtenberg saß; auf dem Plattenspieler läuft | |
Bowie und er antwortet darauf. Das fand ich grandios, dadurch hat sich für | |
mich ein Anknüpfungspunkt ergeben.“ | |
Möglich, dass Müller damals thematisiert, dass immer mehr Freunde weggingen | |
aus der DDR. Doch der Text wirkt abstrakt genug, um zeitlos zu sein. Dass | |
er nach wie vor funktioniert, merkte Qrella unlängst bei einem Konzert in | |
Istanbul, als das Publikum besonders auf dieses Stück ansprang – vielleicht | |
weil Menschen dort dieser Tage ebenfalls einen „Braindrain“ erleben müssen. | |
Den Text verwandelte Masha Qrella jedenfalls in einen schön schwingenden | |
Song, der, obwohl er zum Teil aus Bowies, zum Teil aus Müllers Feder | |
stammt, typisch für sie klingt: introspektiv und offen zugleich. Bisher | |
hatte sie ausschließlich auf Englisch getextet, doch auf der gerade auf | |
ihrem neuen Label Staatsakt erschienen EP „[3][Day After Day]“ singt sie | |
fast ausschließlich deutsch. | |
Das hat vielleicht auch damit zu tun, dass die Auftragsarbeit am HAU zum | |
Einstieg in eine Auseinandersetzung mit ihrer Biografie wurde: „Das Projekt | |
hat mich auf eine Reise in meine eigene Vergangenheit geschickt“, erklärt | |
Qrella | |
Konkret bedeute das, über ihre DDR-Sozialisation – geboren wurde Qrella | |
1975 als Tochter eines Russen und einer Deutschen in Ostberlin – neu | |
nachzudenken. Sie freut sich, dass das aktuell wieder vielerorts geschieht | |
– die Diskussion über Parallelen zwischen Migrationserfahrung und dem | |
Biografiebruch für DDR-Bürger durch die Wiedervereinigung etwa empfindet | |
sie als bereichernd. | |
Dass ihr persönlicher Rückblick sich auf ihr Musikschaffen auswirkt, liegt | |
nahe: „Ich habe in einer langen Amnesie gelebt. In den ersten Jahren war | |
ich relativ sprachlos. Da lag es nahe, erst einmal Instrumentalmusik zu | |
machen“ | |
Ihre musikalischen Anfänge hatte sie in den späten 1990er Jahren als | |
Gründungsmitglied der Berliner Postrock-Combo Mina. Wenig später gründetet | |
sie dann die Band Contriva mit, seit 2002 ist sie überwiegend solo | |
unterwegs. In recht großen Zeitabständen veröffentlichte sie verlässlich | |
gute Songwriteralben, unter denen das so leichtfüßige wie klare „[4][Keys]�… | |
(2016) besonders leuchtet. Auch hier klangen ihre Texte schon sehr | |
persönlich. | |
Doch zurück zu dem, was sie gegenwärtig umtreibt. „Es hat gedauert, bis ich | |
mich abgrenzen konnte, auch gegenüber der neuen Gesellschaft. Erst viel | |
später begreift man, dass der Westen auch keine Antwort auf die Fragen | |
bietet, die wir uns damals gestellt haben.“ | |
Über die Lektüre von Marion Braschs autobiografischer Geschichte, „Ab jetzt | |
ist Ruhe“, das die ideologischen Verwerfungen innerhalb ihrer Familien | |
nachzeichnete, kam Qrella dann dazu, sich mit dem Werk ihres ältesten | |
Bruders zu beschäftigen, dem 2001 gestorbenen Autor und Regisseur Thomas | |
Brasch. | |
## Die Tristesse gibt es immer noch | |
Um dessen Texte wird es in ihrem nächstem Album gehen, das zum Jahresende | |
erscheinen soll, parallel zu einem Brasch-Projekt im HAU. „Seine Texte sind | |
wirklich aktuell und toll, die Songs ziemlich poppig geworden.“ Und fügt | |
fast ein bisschen lakonisch hinzu: „Wenn schon deutsche Texte, warum nicht | |
welche, die schon da sind.“ | |
Einen, den Song „Long Road“, der vom Wiederankommen in der Realität, etwa | |
dem Runterkommen nach einem tollen Konzertabend handelt, hat sie trotzdem | |
selbst geschrieben. Herzstück der EP ist jedoch das eindrückliche, | |
angejazzte 12-Minuten-Stück „Arthur“, das dank des Solos der Saxofonisten | |
Angelika Niescier geradezu hypnotisiert. | |
In der damit vertonten Erzählung geht es um eine verletzte Möwe, die der | |
Verfasser, Theatermacher und Allroundkünstler Einar Schleef einst im | |
Schlosspark Charlottenburg gefunden und mit nach Hause genommen hat, | |
vielleicht. „Abgesehen davon, dass die Geschichte morbide ist und einen | |
guten Humor hat“, so Qrella, „hat mich der Blick auf ein Westberlin | |
fasziniert, das ich so aus Erzählungen nicht kenne. | |
Das aber vielleicht meins gewesen wäre, wenn ich zu der Zeit dort gewesen | |
wäre.“ Die gängige Erzählung über das Westberlin der Achtzigerjahre, find… | |
sie, sei ja eine von Subkultur, Punk, Drogenexzessen. „Das ist jedoch nicht | |
das Berlin, was ich kenne. Das gilt auch heute noch. Die Tristesse, die in | |
Schleefs Text steckt, gibt es heute immer noch – vielleicht nicht für die | |
Touristen, aber für die, die hier leben.“ | |
Dieser Text erscheint im taz.plan. Mehr Kultur für Berlin und Brandenburg | |
immer donnerstags in der Printausgabe der taz | |
5 Apr 2019 | |
## LINKS | |
[1] http://mashaqrella.de/ | |
[2] https://www.hebbel-am-ufer.de/ | |
[3] https://www.youtube.com/watch?time_continue=1&v=b6HomuZaeYw | |
[4] https://www.youtube.com/watch?v=WGrV6RzmD5o | |
## AUTOREN | |
Stephanie Grimm | |
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