# taz.de -- Friedenspreis Salman Rushdie: Immer für den Zweifel | |
> Salman Rushdie erhält den Friedenspreis des Deutschen Buchhandels. Sein | |
> Roman „Die Satanischen Verse“ preist die Skepsis und ist aktuell wie eh | |
> und je. | |
Bild: Salman Rushdie 1989, kurz nach Erscheinen von „The Satanic Verses“ | |
Zehnmal stach der Attentäter mit seinem Messer zu, bevor er überwältigt | |
werden konnte. Salman Rushdie hatte darüber sprechen wollen, wie bedrohte | |
Autorinnen und Schriftsteller in den USA Zuflucht finden, als er [1][am 12. | |
August 2022 auf der Bühne des Amphitheaters in Chautauqua, New York, | |
angegriffen wurde. Rushdie wurde schwer verletzt]. Der Attentäter, ein | |
junger Amerikaner aus einer libanesischen Familie, war noch nicht geboren, | |
als der Führer des iranischen Gottesstaats, Ajatollah Chomeini, den Autor | |
von „The Satanic Verses“ im Jahr 1989 per Fatwa zum Tode verurteilt hatte. | |
Auf Radio Teheran war Chomeinis Verdikt verbreitet worden: „Ich informiere | |
alle stolzen Muslime in aller Welt, dass der Autor des Buchs ‚Die | |
satanischen Verse‘, das gegen den Islam, den Propheten und den Koran | |
gerichtet ist, und alle, die wissentlich an seiner Publikation beteiligt | |
waren, hiermit zum Tode verurteilt sind. Ich fordere alle Muslime auf, | |
diese Personen, wo immer sie sich aufhalten, hinzurichten.“ In London, wo | |
Rushdie schon lange lebte, wurden Exemplare des Buchs öffentlich verbrannt. | |
In einem Interview mit dem britischen Sender Channel 4 erzählte Rushdie | |
wenig später, er bekomme von britischen Muslimen zustimmende Briefe: Ihnen | |
gefalle der Roman, sie schämten sich wegen der Bücherverbrennungen. Das | |
unzivilisierte Verhalten gewisser Imame bringe Schande über die muslimische | |
Gemeinde des Landes. | |
## Nicht außerhalb des Islams | |
Rushdie wies die Behauptung zurück, dass sich sein Buch außerhalb des | |
Islams bewege. Er komme selbst aus einer muslimischen Tradition. In seiner | |
Familie habe es eine große Bereitschaft gegeben, alles zu diskutieren: „Ich | |
kenne den Islam, und der Islam der Mullahs ist nicht der einzige Islam.“ | |
Ahmed Salman Rushdie wurde 1947 in Bombay in eine aus Kaschmir stammende | |
muslimische Familie hineingeboren. Den Nachnamen Rushdie hatte sein Vater | |
zu Ehren Ibn Ruschds angenommen, jenes muslimischen Gelehrten, ohne dessen | |
Aristoteles-Kommentare das christliche Mittelalter in neoplatonischer | |
Finsternis verharrt wäre. | |
Der 1126 in Córdoba geborene Philosoph, Rechtsgelehrte und Mediziner, von | |
den Lateinern Averroes genannt, gilt als Vater des Rationalismus. Er | |
postulierte, nur die Philosophie könne entscheiden, wann eine Koranstelle | |
der Vernunft widerspricht und demzufolge bildlich ausgelegt werden muss. Er | |
hielt das Philosophieren im Islam nicht nur für erlaubt, sondern für | |
verpflichtend. | |
Salman Rushdie machte seinem Nachnamen alle Ehre. Er war bereits ein | |
berühmter und vielfach mit Preisen ausgezeichneter Autor, als „The Satanic | |
Verses“ im September 1988 erschien. Es war Rushdies Meisterwerk. Zu Recht | |
wird es in einem Atemzug mit dem Romanzyklus „Gargantua und Pantagruel“ des | |
französischen Humanisten und Satirikers François Rabelais genannt. | |
## „Satanische Verse“ wichtigstes Buch | |
Dass [2][Salman Rushdie nun der Friedenspreis des Deutschen Buchhandels | |
verliehen wird], ist zu begrüßen. Zu bedauern ist nur, dass er ihn erst | |
jetzt bekommt. Dass die Jury ihn dafür preist, er verbinde in seinen | |
Büchern erzählerische Weitsicht mit stetiger literarischer Innovation, | |
Humor und Weisheit, ist richtig. Sie hätte auch festhalten können, dass | |
Rushdie eines der wichtigsten Bücher des 20. Jahrhunderts geschrieben hat. | |
Es beginnt mit Terror. Sikh-Separatisten sprengen ein Flugzeug, das sich | |
auf dem Weg nach London befindet, über dem Kanal in die Luft. Zwei | |
muslimische indische Männer, Saladin Chamcha, der in Großbritannien als | |
Synchronsprecher arbeitet, und der Bollywoodstar Gibreel Farishta überleben | |
auf wundersame Weise. Bevor sie ins Meer stürzen, verwandelt sich Gibreel | |
in den Erzengel Gabriel, sein Schicksalsgenosse Saladin in einen | |
bocksbeinigen Teufel. | |
Unter Immigrantenkindern Londons wird er zum Symbol der Selbstermächtigung: | |
„Das ist ein Image, das die weiße Gesellschaft so lange abgelehnt hat, dass | |
wir das jetzt übernehmen können, verstehst du? Wir können es neu besetzen | |
und uns zu eigen machen“, erklärt die junge Mishal, ebenfalls indischer | |
Herkunft, die eine Punkfrisur und bauchfreie Tops trägt, dem behaarten und | |
behörnten Saladin. Der aber wünscht sich, endlich wieder er selbst zu sein, | |
so old-fashioned English wie möglich. | |
Gibreel wird von Träumen heimgesucht, die ihn in die Zeit zurückführen, als | |
Mohammed, im Buch Mahound genannt, die Worte des Erzengels empfängt. | |
Mahound sieht sich eines Tages vor einer Gewissensentscheidung: Soll er die | |
alten drei Göttinnen, die in seiner Stadt verehrt werden, in seinen Text | |
aufnehmen, oder nicht? Das würde seine Botschaft attraktiver und den | |
Herrschenden verdaulicher machen, sie aber zugleich verfälschen. | |
Dieses Problem verweist auf die grundsätzliche Frage, die Rushdie zu | |
beantworten suchte: „Wenn du schwach bist, wirst du einen Kompromiss | |
eingehen? Wenn du stark bist, wirst du tolerant sein?“ | |
## Revolutionsführer Ajatollah Chomeini | |
Wie man Stärke mit Intoleranz verbindet, zeigte Ajatollah Chomeini, als das | |
Buch erschien. Dass er es selbst nicht gelesen hat, wissen wir durch seinen | |
Sohn. Er hat es aber übersetzen und begutachten lassen. Dem Zensor dürfte | |
aufgefallen sein, dass Chomeini einen Gastauftritt in Rushdies Roman hat – | |
als namenloser Imam im Londoner Exil. Rushdie spielt in dieser Passage auf | |
eine Abhandlung des Revolutionsführers über „Die Natur des Wassers“ an. | |
Wasser ist für den Roman-Imam ein Medium der Reinheit. Auf Reinheit zielt | |
seine gesamte Ideologie ab, die sich asketisch gegen die menschliche | |
Geschichte als solche richtet, hat diese doch die teuflische Moderne | |
hervorgebracht. Diese war und ist allen modernen muslimischen Fanatikern | |
ein Dorn im Auge. Der Algerier Malek Bennabi etwa, ein früher Theoretiker | |
des Islamismus, hasste die Juden, die Frauen und den Dollar. Sie begriff er | |
als „Trilogie des 20. Jahrhunderts“, die es zu bekämpfen gelte. | |
Rushdie verstand das gut: Sein Gibreel hat eine jüdische Geliebte. Die | |
Tochter eines Holocaust-Überlebenden hat den Everest bestiegen und | |
vermarktet sich als kühle Abenteurerin. | |
## Hass auf Frauen bei Islamisten | |
[3][Der unbändige Hass der Islamisten auf Juden hat sich vor einer Woche | |
einmal mehr in den abscheulichen Verbrechen der Hamas gezeigt]. Der | |
unbändige Hass der Islamisten auf Frauen wird in Iran durch vielfache | |
Aussagen bezeugt, wonach Schergen des Teheraner Regimes gezielt auf die | |
Geschlechtsorgane lautstark demonstrierender Frauen schießen. | |
Wo religiöse Autoritäten egal welchen Bekenntnisses die Macht besitzen, | |
ihre Idee von Reinheit mit Gewalt durchsetzen zu können, tun sie das auch. | |
Wo Reinheit herrscht, sterben Lust und Lachen. Das ist das eigentliche | |
Skandalon der „Satanischen Verse“. Diese Erzählung verkörpert nicht nur d… | |
Überzeugung, dass alles angezweifelt werden darf und muss, sondern sie | |
bringt zum Lachen. „Die satanischen Verse“ sind ein witziges Buch. | |
Nur bei einer Sache verlässt den Autor die Leichtigkeit: Wenn er über den | |
Rassismus gegenüber braunen und schwarzen Einwanderinnen und Einwanderern | |
im Großbritannien der Thatcher-Jahre erzählt. Wenn sich sein Buch | |
ausdrücklich gegen etwas wendet, dann ist es die Gewalt gegen Minderheiten | |
durch eine verunsicherte Mehrheit. | |
## Die Fatwa und die Verlage | |
Rushdies deutscher Verlag Kiepenheuer & Witsch zögerte wegen der Fatwa, | |
das Buch herauszubringen. Die taz versuchte daher, deutsche Zeitungen dafür | |
zu gewinnen, Auszüge auf ihren Titelseiten zu veröffentlichen. Nur Frank | |
Schirrmacher von der FAZ setzte sich ebenfalls dafür ein, konnte sich dort | |
aber nicht durchsetzen. So druckte nur die taz am 22. Februar 1989 auf | |
ihrer Titelseite Passagen aus dem Buch. | |
Die deutsche Buchbranche gründete alsbald einen gemeinsamen Verlag, um den | |
Roman auf Deutsch zu veröffentlichen. Die Übersetzer dieser Ausgabe sind | |
bis heute anonym geblieben. Ihr japanischer Kollege Hitoshi Igarashi wurde | |
ermordet. Der italienische Übersetzer Ettore Capriolo und der norwegische | |
Verleger William Nygaard wurden bei Anschlägen schwer verletzt. Jamshid | |
Khasani, der „Die satanischen Verse“ zum zweiten Mal in Farsi übersetzt | |
hatte, flüchtete aus Teheran nach Israel. | |
19 Oct 2023 | |
## LINKS | |
[1] /Attentat-auf-Salman-Rushdie/!5871699 | |
[2] /Friedenspreis-fuer-Salman-Rushdie/!5941452 | |
[3] /Angriff-auf-Israel/!5965719 | |
## AUTOREN | |
Ulrich Gutmair | |
## TAGS | |
wochentaz | |
Salman Rushdie | |
Friedenspreis des Deutschen Buchhandels | |
Fatwa | |
Ajatollah Chomeini | |
Attentat | |
Islamisten | |
Salman Rushdie | |
Schlagloch | |
Friedenspreis des Deutschen Buchhandels | |
Schwerpunkt Frankfurter Buchmesse 2023 | |
Salman Rushdie | |
Literatur | |
Fatwa | |
## ARTIKEL ZUM THEMA | |
Lesung von Salman Rushdie in Berlin: Beifall für einen Überlebenden | |
In Berlin stellte Salman Rushdie sein Buch „Knife“ über das auf ihn verüb… | |
Attentat vor. Gewürdigt wurde ein Verteidiger des Wortes. | |
Feinde und Freunde der Demokratie: Nicht durchdrehen | |
Doch Demokratie ist keine Werbekampagne. Angesichts der Krisen, die sie | |
erschüttern, ist es die größte Aufgabe, dem Hass zu trotzen, der uns | |
einlädt. | |
Friedenspreis für Salman Rushdie: Hirngespinst aus der Opiumpfeife | |
Salman Rushdie wurde der Friedenspreis des deutschen Buchhandels verliehen. | |
In seiner Rede verteidigte er die Meinungsfreiheit in alle Richtungen. | |
Eindrücke von der Frankfurter Buchmesse: Emotionen auf breiten Gängen | |
Positive Energy, Emotion, Happy End: Der Romance-Boom ist auf der | |
Frankfurter Buchmesse angekommen. Aber was ist mit den literarischen | |
Stimmen? | |
Friedenspreis für Salman Rushdie: Eine gute, politische Entscheidung | |
Unbeirrt verteidigt der Autor Salman Rushdie mit seinen Romanen das Recht | |
auf freie Meinungsäußerung. Ihm und anderen gebührt öffentliche | |
Solidarität. | |
Friedenspreis für Salman Rushdie: Bejahung des Lebens | |
Der Schriftsteller Rushdie wird den Friedenspreis des deutschen Buchhandels | |
bekommen. Die Jury begründet das mit seinem Mut und seiner Erzählfreude. | |
Anschlag auf Salman Rushdie: Die Glorifizierung der Ehre | |
Der Angriff auf Salman Rushdie zeigt einmal mehr, dass wir es mit einem | |
System der Gewalt zu tun haben. Und nicht mit „Einzeltätern“. |