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# taz.de -- Anschlag auf Salman Rushdie: Die Glorifizierung der Ehre
> Der Angriff auf Salman Rushdie zeigt einmal mehr, dass wir es mit einem
> System der Gewalt zu tun haben. Und nicht mit „Einzeltätern“.
Bild: Junge Männer auf einer Demonstration in Den Haag 1989 gegen die „Satan…
Wie soll man umgehen mit dem jüngsten Attentat? Wie können wir junge Männer
verstehen, die normal wirken, aber sich wie Roboter benehmen, die nichts
Unnormales daran finden, zu töten? Viele der „Einzeltäter“ sind junge
Männer, die entweder einer rechtsextremen Ideologie oder einer externen
Stimme folgen. Letztere ist oft die sehr reale Stimme eines Imams, einer
Moschee, einer Gemeinde.
Viele gläubige, aber auch nicht besonders fromme Muslime zeichnen den Islam
als Religion des Friedens, schweigen aber zum Terror, der sich auf ihre
Religion beruft. Dieses Schweigen ist mitverantwortlich für die Wiederkehr
der Gewalt. Auch Liberale und Linke tragen ihren Teil der Verantwortung,
wenn sie, „um die guten Muslime vor Anfeindungen zu schützen“, solche Taten
nicht laut als das benennen, was sie sind: Terrorakte. [1][Die Angriffe auf
Salman Rushdie], Charlie Hebdo, Samuel Paty und andere sind Angriffe auf
die Grundlagen unserer Menschlichkeit.
Wie ist es möglich, dass es im 21. Jahrhundert immer noch Menschen gibt,
die im Namen einer sich auf Gott berufenden Ideologie morden? Befinden sie
sich im Krieg? Wenn ja, mit wem? Ich fürchte, ich kann keine logischen
Gründe dafür finden und mein Zorn wird noch größer, wenn ich von der
nächsten Tat höre. Wenn wieder einer Frau Säure ins Gesicht gespritzt
wurde, wenn wieder jemand erstochen oder einem „Ehrenmord“ zum Opfer
gefallen ist. Und das alles im Namen Gottes geschieht, weil wieder ein
junger Mann wahnhaften Ideen aus Teheran, Mekka oder Karatschi verfallen
ist.
## Als Ajatollah Chomeini eine Fatwa erließ
Die Opfer wurden oft bereits vor den Angriffen von der Gesellschaft
ausgeschlossen. Im Fall Rushdies lässt sich dieser Moment exakt bestimmen:
als der iranische Revolutionsführer Ajatollah Chomeini eine Fatwa gegen ihn
erließ.
Eine Fatwa ist ein Rechtsgutachten einer muslimischen Autorität, das auf
kanonischen Regeln beruht. Fatwas berufen sich oft auf die Kontinuität
sittlicher Lehre in einem gegebenen kulturellen Kontext. Fatwas können
Antworten auf sehr unterschiedliche Fragen geben. Meist handelt es sich um
Fragen der persönlichen Lebensführung, manchmal aber auch um Aufrufe zu
sozialem Handeln. Der Anlass, der die Fatwa gegen Salman Rushdie
provozierte, waren dessen Schriften, die sich angeblich über den Propheten
und also den Koran selbst lustig machten. Eine Fatwa wie diese zwingt einen
Menschen zur Flucht, macht ihn zum ultimativen Außenseiter.
Was aber bringt einen 25 Jahre alten Mann in Lyon dazu, wie in dieser Woche
geschehen, seinen Vater zu köpfen, blutverschmiert herumzulaufen und Gott
zu preisen? Was bringt Hadi Matar dazu, auf der Bühne einer Kleinstadt im
Staat New York Salman Rushdie mit einem Messer anzugreifen? Woher kommt der
Wille, einen Menschen zu vernichten?
## Schizophrene Existenz
Junge Männer wie diese scheinen sich oft ihrer Umgebung angepasst zu haben,
hängen jedoch Ideologien an, die mit ihrer Umwelt nicht zu vereinbaren
sind. Sie führen eine schizophrene Existenz. Oft erzählt uns ihr Habitus
eine Geschichte der Integration in die kapitalistische Konsumwelt. Sie
tragen die neuesten Sneakers von Adidas, haben durchtrainierte Körper und
scheinen über ein erhebliches Potenzial aufgestauter sexueller Energie zu
verfügen. Die Grenzen zwischen Körper und Geist, Ich und Gesellschaft
scheinen sie nur verschwommen wahrzunehmen. Der moderne Dschihadismus zieht
sie an, weil dieser das Leben zu einem ständigen Kampf erklärt, der den
Kämpfer in eine muslimische Version von Walhalla führen wird.
Für Menschen, die widersprüchlichen Normen gerecht werden müssen, muss die
Frage ihrer „Wurzeln“ zu einer existenziellen werden. Eine konstruierte
Stammeszugehörigkeit, eine spirituelle Identität soll den Widerspruch
auflösen und Halt in der Haltlosigkeit geben. Das ist gefährlich, weil
diese „Wurzeln“ zur Begründung für Gewalt werden. Sie erscheint diesen
jungen Männern als gerechtfertigt, weil sie das Leiden an der Welt
beseitigen wird. Der Täter ist frei von persönlicher Verantwortung, kann er
sich doch auf Gott selbst berufen.
Die Philosophin Gayatri Spivak meint, es sei schwierig, über die „Politik
der Interpretationen“ zu sprechen, „ohne einen Begriff von Ideologie zu
haben, der größer ist als Konzepte des individuellen Bewusstseins und
Willens“. Ideologie kann die Widersprüche zwischen einer Vorstellung von
Vorbestimmtheit und dem freien Willen, zwischen einer bewussten
Entscheidung und einer unbewussten Handlung zum Verschwinden bringen.
Dass Salman Rushdie Zorn auf sich gezogen hat, erscheint vor diesem
Hintergrund als beinahe zwangsläufig. Rushdie wurde seitens der religiösen
Autoritäten des Gottesstaats zum ultimativen Verbrecher erklärt, weil er
ein Whistleblower ist, der die Absurditäten eines auf Ideologie beruhenden
Staatsgebildes ans Licht gezerrt hat.
Wer hat das Recht, eine Fatwa zu formulieren? Aus einer humanistischen
Perspektive müsste man antworten: Niemand hat das Recht dazu. In der
sunnitischen Tradition des Islams sind es Menschen mit dem Ehrentitel
Mufti, die dazu befugt sind, in der Schia sind es unter anderem Ajatollahs.
Selbstredend dürfen nur Männer das islamische Recht interpretieren.
## Sie sagen, Gott wünscht sich von ihnen zu töten
Die Frage, wer sich als Mufti bezeichnen darf und also über diese
Qualifikation verfügt, wird aber in vielen muslimischen Gemeinschaften,
Gesellschaften und Ländern unterschiedlich beantwortet. Der Titel
impliziert, dass die Person, die ihn trägt, über ein immenses Wissen über
die islamische Rechtsprechung verfügen muss. Aus meiner Erfahrung kennen
die meisten Muftis den Koran zwar auswendig. Vielen von ihnen mangelt es
aber an Gelehrsamkeit, was die Tradition seiner Interpretation angeht.
Manche sind ihrer Aufgabe aus anderen Gründen nicht gewachsen. Oft
tendieren sie dazu, mit Gewalt auf selbst kleinere Gesetzesübertretungen
und Verstöße gegen Normen zu reagieren. Das ist insofern problematisch, als
sie dafür verantwortlich sind, die Anwendung des Korans modernen
Gegebenheiten anzupassen.
Ein Mufti kann eine Person zum Apostaten erklären, also zu jemandem, der
als vom Islam abgefallen gilt. Der Apostat ist innerhalb muslimischer
Staaten, potenziell aber überall auf der Welt eine rechtlose Person. Sie
kann kaum vor jenen „wahren Gläubigen“ beschützt werden, die sich ihren T…
wünschen.
Niemand ist davor gefeit, von einem Verrückten getötet zu werden. Im Fall
der Fatwas gegen Menschen, deren Meinung islamischen Gelehrten nicht
gefällt, müssen wir aber von einem System sprechen: Einer großen Zahl von
Menschen wird von ihren religiösen Autoritäten gepredigt, dass Gott sich
von ihnen wünscht, zu töten. Man könnte dieses System ein System
kanonischer Gewalt nennen. Ich höre schon den apologetischen Einwurf derer,
die an dieser Stelle rufen: Gewalt sei im Islam nicht weiter verbreitet als
in anderen Religionen, der Terror werde ja von Einzeltätern ausgeführt. Dem
möchte ich widersprechen.
## Unkritische Glorifizierung
In der Tat hat jede dogmatische Interpretation eines Glaubenssystems
katastrophale Folgen: Nehmen wir Hindutva, die religiös-politische Bewegung
in Indien, die an die rassische Überlegenheit der arischen Hindus glaubt.
Manche in dieser Bewegung fordern gar die Vernichtung von Muslimen,
Christen und anderen Minderheiten. Aber warum gelingt es uns im Westen
nicht, junge muslimische Männer zu stoppen, die im Namen des Islams töten?
Offenkundig hat das mit der Sozialisation dieser jungen Männer zu tun: Die
unkritische Glorifizierung der Ehre der Gemeinschaft, der Familie, der
Religion muss aufhören, weil sie weder mit der gesellschaftlichen Realität
noch mit den Rechten der Einzelnen in Einklang zu bringen ist.
Wir wiederum müssen aufhören, wegzusehen, wenn sich Menschen radikalen
Formen von Religion unterwerfen und diese zur allgemeingültigen Norm
erklären. Wir müssen diese Situation als das benennen, was sie ist:
unakzeptabel und gefährlich. Eine militante Form des religiösen Denkens
verbreitet sich – parallel zu den menschenfeindlichen Ideologien der
extremen Rechten – in immer dogmatischeren Varianten. Auch weil viele
Moscheengemeinden nicht in der Lage sind, Antworten auf die Komplexität
des Lebens in der Moderne zu geben, lässt die Frustration der Gläubigen
vielen von ihnen Gewalt als die einzig adäquate Antwort auf alles
erscheinen, was ihren Vorstellungen nicht entspricht.
Aus dem Englischen von Ulrich Gutmair
21 Aug 2022
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## AUTOREN
Ibrahim Quraishi
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