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# taz.de -- Antisemitismus und Rassismus: Juden zählen nicht
> In Ländern des Globalen Südens bedient Antisemitismus oft ein
> postkoloniales Narrativ. Doch auch in Deutschland werden Juden weiter
> ausgegrenzt.
Bild: Unser Autor Ibrahim Quraishi ist Künstler. Diese beiden Fotos seines Gro…
Wer aus einer muslimischen Familie stammt, hat viel über das Verhältnis von
Muslimen zu Juden zu erzählen – und umgekehrt. Als ich an einer
Kunstinstitution in Amsterdam lehrte, fragte mich eines Tages eine jüdische
Kollegin, was ich eigentlich gegen sie hätte? Ich nehme an, ich war nicht
nett zu ihr. War das Antisemitismus? Wohl kaum.
Als ich in Tunesien die erste Klasse einer internationalen Schule besuchte,
wies die Direktorin, eine Ägypterin, meinen Vater auf den „ungesunden“
Umstand hin, dass ich mit französischen und jüdischen Kindern spiele –
statt mit arabischen. War das Antisemitismus? Ja, natürlich.
Einige Jahre später in Moskau, meine Eltern waren als Diplomaten dorthin
entsandt worden, stammten alle meine Schulfreunde aus jüdischen Familien.
Eines unserer Lieblingsspiele hieß Sechs-Tage-Krieg. Sie wollten immer die
Araber sein, ich der Israeli. War das jüdischer Selbsthass auf ihrer Seite,
Philosemitismus auf meiner? Ich denke nicht.
## Keine Judenwitze in der Familie
Einen tiefen Eindruck hinterließ eine Szene, die sich während einer
Geburtstagsfeier meines Vaters abspielte, als eine Tante anfing, einen
Judenwitz zu erzählen. Mein Vater wurde blass und bat die Tante sehr
beherrscht – wenn Vater sich so benahm, wusste ich, wie zornig er war –,
das Haus zu verlassen.
Das Sujet der Beziehung zwischen Juden und Muslimen und mit ihm verbunden
das Phänomen der Judenfeindschaft, war immer und ist noch heute für Juden
und Muslime präsent. Umso sprachloser bin ich angesichts des [1][Skandals
bei der documenta fifteen]. Wir haben es hier mit einer besonders naiven
Form des Wokeseins zu tun.
Ein Charakteristikum dieses Phänomens ist, dass jede und jeder sensibel
gegenüber jeglicher Form der Diskriminierung sein möchte, aber viele nicht
zu wissen scheinen, wie das konkret auszusehen hat. Ein anderer Aspekt
dieser Naivität scheint mir aber gewollt zu sein: Antisemitismus für
weniger problematisch als Rassismus zu erachten.
Es lohnt sich, noch einmal einen Blick auf das [2][Banner der indonesischen
Künstlergruppe Taring Padi] zu werfen: Die dort gezeigten
[3][antisemitischen Motive sollen als Antwort auf das Regime des Diktators
Suharto gelesen] werden? Im Ernst? Abgesehen davon, dass die Abbildung
eines orthodoxen jüdischen Manns, der einen Hut mit SS-Rune trägt, keine
Kritik an irgendeinem Regime sein kann, ist die vom Kollektiv abgegebene
Erklärung des Bedauerns unehrlich.
## Ideologisches Schema
Denn was dieses Banner unter anderem transportiert, folgt einem
ideologischen Schema, das die Suharto-Diktatur selbst lange propagiert hat.
Ein Schema, das ein [4][bestimmtes koloniales und postkoloniales Narrativ]
im muslimisch geprägten Süden bedient.
Unter Suhartos Regime wurde der Antisemitismus zu einem Vehikel des
Machterhalts. Suharto agitierte gegen „yahudi yang tidak bisa dipercaya“,
die „Juden, denen man nicht trauen kann“ – und damit gegen die chinesische
Minderheit: In den Jahren vor seinem Sturz verbreitete Suharto die Legende,
„die Chinesen“ und der „internationale Zionismus“ hätten sich gemeinsam
gegen das Land verschworen.
Nach indonesischem Recht wird das Judentum nicht als Religion akzeptiert,
es leben kaum Juden im Land. Wie in Indonesien grassiert in vielen Ländern
des Globalen Südens ein Antisemitismus, der ohne Juden auskommt, weil diese
[5][vor Diskriminierung und Repression geflohen sind]. Nebenbei bemerkt
besteht ein Teil der deutschen Verantwortung, die in der Debatte um die
documenta konsequent ignoriert wird, darin, dass der moderne Antisemitismus
auch von den Nazis mittels eigener Radioprogramme auf Türkisch, Farsi und
Arabisch verbreitet wurde.
Es handelt sich dabei um den Konsum von Mythen, von imaginierten und
wahnhaften Erzählungen, in denen von Juden die Rede ist, die schon den
Propheten Mohammed betrogen hätten. Auch die Gründung Israels erscheint in
diesem Narrativ als ein Projekt der betrügerischen Juden: Es war immer der
Jude. Irgendwer muss für das Übel in der Welt verantwortlich sein.
Taring Padi stellten in ihren Bildern also nur etwas dar, von dem sie
annehmen konnten, dass es sich dabei um eine soziale und kulturelle Norm
handelt – nicht nur in ihrem eigenen Kontext, sondern auch in Europa.
## Nahostkonflikt und Antisemitismus
„Aber der Nahostkonflikt!“, wendet an dieser Stelle sicher jemand ein. Der
Nahostkonflikt sei der Grund für Antisemitismus in der muslimischen Welt,
so lautet die gängige These. Das Gegenteil ist richtig: Der Konflikt dient
in diesem Teil der Welt als Rechtfertigung für Judenfeindschaft. Wir
sollten ehrlich sein und dieser Legende laut widersprechen.
Kehren wir zurück nach Deutschland, immerhin ist es die documenta, die
dieses Problem einmal mehr aufgezeigt hat: Wie steht es hier mit den Juden,
werden sie als Diskriminierte wahrgenommen, zählt man sie zu den People of
Color? Ich bin als ein Exemplar dieser Gruppe von Menschen jedes Mal aufs
Neue erschüttert, wenn ich Zeuge davon werde, dass die Vorstellungskraft
der POC-Gemeinde nicht ausreicht, sich Juden als Teil der eigenen, bunten
Familie zu denken.
Die Frage, wer zum endlos durch die Geschichte wandernden Zug all jener
gehört, die erniedrigt und beleidigt werden, wird durch Ansprüche von
verschiedenen Seiten ständig verunklart. Wer darf aus einer Perspektive der
Identität sprechen, wer wird zu den potenziellen Opfern von
Ausschlussmechanismen und Gewalt gezählt? Wer entscheidet darüber, wer dazu
gehört – und wer nicht?
[6][„Jews don’t count“ – „Juden zählen nicht“ lautet der Titel ein…
das mir vor Kurzem ein Freund ausgeliehen hat. David Baddiel], der Autor,
ist ein britischer jüdischer Comedian. Er versteht diesen Titel als
nüchterne Beschreibung der Realität in der englischsprachigen Welt: Juden
werden nicht zu den Opfern von Diskriminierung gezählt, weil sie angeblich
„weiß“ und mächtig seien.
## Toxisches Gemisch aus zwei Kulturen
Als ich Baddiels Buch zu lesen begann, hatte ich das Gefühl, das erste Mal
meine Gedanken und Gefühle schwarz auf weiß gedruckt zu sehen. Baddiel
zeigt, dass eine Kultur des Cancelns und eine Kultur des Opfers zusammen
ein toxisches Gemisch ergeben. Der „Wert“, die Legitimität einer
Diskriminierungserfahrung sollte niemals von der Identität einer Person
oder der Wahrnehmung dieser Identität durch andere bestimmt werden. Denn
das widerspricht nicht nur jeder Logik, sondern einer grundlegenden
Vorstellung von menschlicher Würde.
Ein schockierendes Beispiel für die Auswirkungen der Hierarchisierung von
Opfererzählungen habe ich an meinem eigenen Küchentisch erlebt. Eine
afroamerikanische Künstlerkollegin, Tochter eines weißen und eines
schwarzen Elternteils, die im Alltag durchaus als weiß wahrgenommen werden
könnte, griff eine israelische Künstlerkollegin an: Diese habe „keine
Ahnung von Rassismus“. Denn sie sei nicht von den sich täglich in Berlin
ereignenden rassistischen Attacken in Berlin betroffen. „Juden“, sagte die
Amerikanerin, „leiden niemals so unter Rassismus wie Afroamerikaner.“
Die Stille, die sich am Tisch ausbreitete, war schwer zu ertragen. Denn
meine israelische Kollegin war auch gleich noch für das Verbrechen der
Besetzung palästinensischen Lands verantwortlich gemacht worden. Und dann
war die Anklage darauf hinausgelaufen, dass sich eine Jüdin in Berlin um
gar nichts Sorgen machen müsse, weil sie wegen des kollektiven deutschen
Schuldgefühls bevorzugt behandelt werde.
Was meine amerikanische Kollegin nicht wissen wollte, war dies: Meine
israelische Kollegin kommt aus einer armen jemenitisch-persischen
Einwandererfamilie. Dass sie jüdisch und israelisch ist, versucht sie oft
zu verbergen, weil sie sich vor Angriffen, wie jenem, den sie nun erlebte,
fürchtet. Angriffen, denen die fixe Idee zugrunde liegt, dass der Holocaust
den Platz besetzt hält, an dem das Leiden der Anderen erzählt werden
müsste.
## Hohepriester des Opferdialogs
Es steht außer Frage, dass es Viktimisierung gibt, dass sie alltäglich
stattfindet und dass manche Menschen stärker davon betroffen sind als
andere. Was mich in Rage bringt, ist das Phänomen, dass viele, die sich zu
Hohepriestern des Opferdialogs stilisieren, andere ausschließen. Ich
empfinde diese Facette einer vor sich her getragenen Wokeness als anstößig,
weil eben jene „Experten“, die von ständiger institutioneller
Diskriminierung sprechen, bewusst ihre jüdischen Mitmenschen ausschließen.
Womit wird dieser Ausschluss begründet? Weil „die Juden“ als die
Unterdrücker „der Araber“ gelten – nicht etwa die arabischen Diktatoren.
„Sie“ gelten als „schlau“ und sitzen an den Schaltstellen der Macht, von
Soros bis Zuckerberg. „Sie“ wagen es immer noch, Wirbel um etwas zu machen,
das historisch möglicherweise stattgefunden hat (vielleicht aber auch
nicht). All das habe ich schon so oft mit eigenen Ohren gehört, dass es
mich nicht mehr erstaunt.
Baddiel hat eine weitere Erklärung: Die meisten Identitäten, von sexueller
Orientierung einmal abgesehen, lassen sich nicht verbergen. Viele Juden
aber können sich verstecken, können als Nicht-Juden durchgehen. Daraus wird
geschlossen, dass sie auch nicht unter Rassismus leiden können.
Aus diesem Grund wird Antisemitismus als „nicht so schlimm wie Rassismus“
betrachtet. Die Crux des Problems besteht in Zirkeln, die sich als
progressiv verstehen, darin, dass bewusst historische Kontexte ignoriert
werden, dass Jüdinnen und Juden bewusst Empathie verweigert wird – und dies
ohne jede kritische Selbstreflexion geschieht. Das Gebot der Inklusion gilt
aber für alle, basta.
Aus dem Englischen von [7][Ulrich Gutmair]
30 Jul 2022
## LINKS
[1] /Ruecktritt-von-Documenta-Chefin/!5868917
[2] /Antisemitismus-bei-der-Documenta/!5859644
[3] /Kuenstlerkollektiv-Taring-Padi/!5859643
[4] /Politisierung-auf-der-documenta-15/!5856408
[5] /Juden-in-der-arabischen-Welt/!5614160
[6] /Buch-ueber-Antisemitismus/!5821171
[7] /Ulrich-Gutmair/!a9/
## AUTOREN
Ibrahim Quraishi
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