# taz.de -- Interview mit Historiker Tom Segev: „Storyteller, nicht Teil der … | |
> Tom Segev kommentiert seit Jahren die deutsch-israelische Geschichte. | |
> Hier spricht der Journalist über seine Autobiografie und den | |
> Palästinakonflikt. | |
Bild: Der Historiker und Autor Tom Segev | |
taz: Herr Segev, Sie wurden 1945 in Jerusalem als Kind deutscher Eltern | |
geboren, die 1935 nicht aus zionistischer Überzeugung, sondern aus Mangel | |
an Alternativen nach Palästina geflohen sind. Welche Rolle spielte | |
Deutschland in Ihrer Kindheit und Jugend? | |
Tom Segev: Zu Hause sprachen wir Deutsch, das war meine erste Sprache. | |
Meine Mutter vermittelte [1][mir und meiner Schwester] immer den Eindruck, | |
dass sie eine bessere Welt verloren hatte – in Deutschland, in Europa. Weil | |
meine Mutter nicht jüdisch war, äußerte sich bei ihr dieses Gefühl in | |
Israel besonders stark. Hebräisch hatte sie nie gelernt. Meine Artikel | |
konnte sie daher nie lesen, meine Bücher nur in der deutschen Übersetzung. | |
Ihren Geburtsnamen, Thomas Schwerin, legten Sie als junger Mann ab. Warum? | |
Ich war es leid, als fremd zu gelten. Mit diesem Namen wäre ich in Israel | |
nicht weit gekommen. Zunächst nannten mich meine Eltern aber tatsächlich | |
„Tito“. Nun gut, sie waren halt überzeugte Kommunisten (lacht). Ich selbst | |
wählte dann „Tom“; Israel war ja damals schon stark von den USA geprägt. | |
Als junger Journalist wollte ich dann einen hebräischen Nachnamen. Bei | |
„Segev“ war mir vor allem wichtig, dass der Name in jeder Sprache leicht | |
auszusprechen ist. | |
Wie verliefen dann Ihre ersten Reisen nach Deutschland? | |
Ich sprach ausschließlich Englisch. Deutsch, das erschien mir zu intim, ich | |
war ja schließlich nicht zu Hause, in Jerusalem. Bei den ersten | |
Aufenthalten in Deutschland hatte ich stets das Gefühl, alle Menschen dort | |
würden meine Mutter kennen. Sehr schnell interessierte mich der Umgang der | |
Deutschen mit ihrer nationalsozialistischen Vergangenheit. Nicht nur als | |
Wissenschaftler für meine Doktorarbeit zu früheren KZ-Kommandanten, sondern | |
auch als Deutschland-Korrespondent für eine israelische Zeitung. Für | |
Ma’ariv traf ich zum Beispiel [2][Albert Speer.] | |
Wie war das für Sie? | |
Merkwürdig. Schon bei den ehemaligen KZ-Kommandanten musste ich lernen, gut | |
zuzuhören, und ihnen den Eindruck vermitteln, dass ich ihrer Erzählung | |
Glauben schenkte. Speer verhielt sich sehr professionell, er war gut | |
vorbereitet. Schon Hitler hatte seine Hand geschüttelt, dachte ich bei | |
unserer Begrüßung sofort. Auch bei Speer konnte ich mich von meinem | |
Notizbuch schützen lassen. Während solcher Interviews habe ich immer | |
versucht, mich als Storyteller zu begreifen – nicht aber als Teil der | |
Story. | |
Wie erlebten Sie ihre Zeit als Korrespondent in Deutschland? | |
Mein Chefredakteur machte mir klar, er möchte Geschichten über Nazis, | |
lebende Juden sowie über palästinensischen Terror. Kommt alles zusammen, | |
lande ich auf Seite eins. Das war, pointiert formuliert, die Logik. Von den | |
Deutschen wurde ich damals weniger als Journalist wahrgenommen, sondern vor | |
allem als Israeli und als Jude. So habe ich mich aber auch selbst | |
verstanden. Denn es lag ja auch auf der Hand, sich bei jeder Person zu | |
fragen: Was hat er oder sie in der Nazi-Zeit gemacht? | |
Was ist Ihnen dabei besonders im Gedächtnis geblieben? | |
Deutsche haben uns israelischen Journalisten häufig erzählt, sie hätten | |
Juden gerettet. Unter uns witzelten wir dann zynisch: Demnach hätte es in | |
Deutschland früher 60 Millionen Juden geben müssen! | |
In Israel sind Sie unter deutschen Juden aufgewachsen. Hat das Ihren Blick | |
auf das Land geprägt? | |
Auf meinem elitären Gymnasium bereitete man uns darauf vor, die damalige | |
aschkenasische Elite fortzuführen, etwa als Universitätsprofessoren. Erst | |
während des Militärdienstes habe ich auch das Leben und die Erfahrungen von | |
mizrahischen Israelis kennengelernt, also jenen Juden, die aus dem Nahen | |
Osten, Asien und Afrika stammen. Wir wurde klar, was für ein buntes Mosaik | |
die israelische Gesellschaft doch ist. Sie ist sogar noch komplexer, als es | |
eine feinsäuberliche Teilung zwischen Aschkenasim und Mizrahim nahehelegt. | |
Können Sie sich auch an Begegnungen mit Arabern erinnern? | |
Nein – aber sehr wohl daran, dass unser Haus in Jerusalem zuvor einer | |
griechisch-palästinensischen Familie gehört hatte. Erst nach dem | |
Sechstagekrieg 1967 und der anschließenden Besatzung wurden die Araber | |
stärker Teil unseres Alltags. In meinen Memoiren schildere ich auch meine | |
Begegnung mit Yussuf. Obdachlos, ohne israelische Papiere traf ich ihn | |
eines Tages in meinem Treppenhaus. Durch ihn habe ich in den | |
darauffolgenden zwanzig Jahren mehr verstanden von der palästinensischen | |
Tragödie, von unserer gemeinsamen Tragödie als durch Bücher und Dokumente. | |
In Ihrem Buch erzählen Sie auch die Geschichte von Itayu Abera, der Mitte | |
der 1980er als Kind aus Äthiopien nach Israel immigriert ist. Was wussten | |
Sie zuvor über die Beta Israel, die Gemeinschaft äthiopischer Juden? | |
Kaum etwas. Ich erinnere mich vor allem an ein faszinierendes Kinderbuch, | |
in dem das Leben eines jüdischen Jungen aus Addis Abeba geschildert wird, | |
der nach Tel Aviv kommt. Über Itayu habe ich jahrelang als Journalist | |
geschrieben. Nach mehreren Jahren haben wir beide gemerkt: Wir sind doch | |
wie Vater und Sohn. Inzwischen bin ich sogar „Opa Tommy“. Itayu arbeitet | |
als Ingenieur bei einer sehr angesehenen Raumfahrtfirma. Er ist daran | |
beteiligt, eine israelische Rakete auf den Mond zu schießen. Was für eine | |
Geschichte! Aber auch Teil meines eigenen Lebens, Ursprung von viel Glück. | |
Was war Ihre größte Herausforderung als Journalist und Buchautor? | |
Oft habe ich über Dinge geschrieben, die nicht übereinstimmten mit den | |
damaligen zionistischen Mythen. Erst ab den 80ern gab es Zugang zu | |
Dokumenten aus dem israelischen Staatsarchiv, später dann auch aus dem | |
Militärarchiv. Ich kann mich lebhaft erinnern an das Gefühl: Wow, so haben | |
wir es damals in der Schule aber nicht gelernt. Das bezog sich etwa darauf, | |
dass Israel nicht immer alles getan hat für Frieden mit den Arabern; dass | |
nicht alle Kriege unvermeidlich waren; dass wir aus den arabischen Ländern | |
eingewanderte Juden wissentlich diskriminiert haben; und dass mindestens | |
die Hälfte der arabischen Bevölkerung im Zuge des 1948er-Krieges vertrieben | |
wurde. Bis heute ist das vielleicht unser sensibelstes Thema. Es ist mir | |
wichtig zu betonen, dass es mir nicht um die Frage geht, wer schuld ist an | |
der palästinensischen Tragödie. Das ist eine sehr komplexe Frage. Aber wir | |
Israelis tragen einen Teil der Verantwortung. | |
Wegen dieser kritischen Haltung werden Sie in Israel den sogenannten Neuen | |
Historikern zugerechnet. | |
So unterschiedlich die darunter gefassten Forscher auch sein mögen – für | |
mich sind das eigentlich die ersten Historiker. | |
Warum? | |
Weil sie israelische Geschichte anhand von wichtigen, zuvor aber nicht | |
zugänglichen Dokumenten analysiert haben; und weil sie die Ereignisse und | |
Entwicklungen nicht als am analysierten Geschehen selbst Beteiligte | |
mythologisiert und ideologisiert haben. Aus der damaligen Zeit heraus kann | |
ich diesen Zugang nachvollziehen. Ich selbst aber gehöre zu einer jüngeren | |
Generation, die den Drang verspürte, die nun zugänglichen Dokumente auch zu | |
analysieren – als Historiker und ohne politische Motive. | |
Sie sind drei Jahre älter als der Staat Israel. [3][Im nächsten Jahr | |
existiert er seit 75 Jahren.] | |
Israel ist eine der beeindruckendsten Erfolgsgeschichten. Dennoch bin ich | |
heute viel pessimistischer als früher. Vor Jahrzehnten hätte ich noch | |
verkündet, dass wir irgendwann Frieden haben, alles vergessen ist. Bei | |
meiner Arbeit für die Ben-Gurion-Biografie stieß ich auf ein Dokument von | |
1919. Darin meinte er, der Konflikt zwischen Juden und Arabern in Palästina | |
sei nicht zu lösen, sondern nur zu managen. Daher müssen wir so stark | |
werden, dass die Araber die Idee unserer Vernichtung aufgeben. Bei Ägypten, | |
Jordanien oder kürzlich bei den Emiraten hat das funktioniert. Wie man aber | |
das Problem zwischen Israelis und Palästinensern lösen kann – ich weiß es | |
einfach nicht. Die systematische Unterdrückung und Verletzung der | |
Menschenrechte der Palästinenser durch die israelische Besatzung macht das | |
Problem immer komplizierter. | |
20 Oct 2022 | |
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Till Schmidt | |
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