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# taz.de -- Plädoyer zu muslimischer Selbstkritik: Die Talibanisierung der Welt
> Wo sind die mutigen muslimischen Stimmen, die Unterdrückung in der
> muslimischen Welt anprangern? Ein verzweifelter Aufruf zur Selbstkritik.
Bild: Soll so etwa die muslimische Normalität aussehen: Taliban-Kämpfer betra…
Mein Onkel Abu-Gharb (ironischerweise bedeutet sein Name übersetzt:
„Lieber Westen“) sagte neulich am Telefon:
„Ich bin Muslim, ein echter Gläubiger, der im Westen lebt. Ich bin hierher
gezogen, weil ich selbstverständlich in Freiheit leben möchte, die mir die
sogenannte Demokratie bieten kann. Noch wichtiger ist mir, die Freiheit zu
haben, ein guter Muslim, eben ein guter Mensch zu sein: Ich protestiere
gegen Israel. Ich setze mich für die Rechte der Palästinenser ein. Aber ich
spreche mich nur ungerne gegen die Taliban, Isis oder gar al-Qaida aus,
denn das ist nicht mein Ding. Ehrlich gesagt, sind alle Probleme dort
drüben die Schuld des Westens. Die aus dem Westen haben sie geschaffen, sie
haben uns kolonisiert und sie führen immer noch ihre Kreuzzüge gegen uns.
Sie kontrollieren unser Öl und unser Volk, deshalb haben die USA [1][Osama
bin Laden] erfunden, um ihren sogenannten Krieg gegen den Terror zu
rechtfertigen. Aber am Ende kontrollieren eh die Juden alles. Schau dir
doch Soros an!“
Ja, beschuldigt den Westen, den Kolonialismus, beschuldigt die, die uns
angeblich hassen und [2][den Islam zerstören wollen.] Ja, auch dem Monster
unter dem Bett können wir die Schuld geben.
Wir müssen endlich aufhören, den Elefanten im Raum zu ignorieren. Letzten
Endes liegt die Verantwortung bei Millionen und Abermillionen passiver
Gläubiger. Denjenigen, die sich in ihrem kollektiven Schweigen weigern,
wenn es um islamischen Fundamentalismus geht, auf den Podien der
Weltöffentlichkeit ihre Stimme zu erheben. Denjenigen, die immer Wege
finden werden, um [3][Frauenfeindlichkeit und Hass] auf andere zu
rechtfertigen, und die immer Ausreden für Intoleranz auf jeder nur
denkbaren Ebene finden.
Diese unschuldigen Sympathisant:innen wie mein Onkel finden immer
Entschuldigungen für das Unerträgliche. Und es ist in der Tat ihnen, Leuten
wie ihm, den Gläubigen des Islams und ihren linken, politisch-korrekten
Freund:innen und den Politiker:innen zu verdanken, die ein solch
unaufrichtiges Spiel der Beschwichtigung religiöser Intoleranz spielen,
dass wir uns heute in einer so schrecklichen kulturellen und politischen
Sackgasse befinden.
## Stimmen gegen den Hass
Wir wissen nur zu gut, dass soziale Revolutionen nicht nur von politischen
Parteien oder außerparlamentarischen Gruppen, Militärjunten, Stammesführern
oder gar religiösen Kadern gemacht werden, sondern das Ergebnis massiver
historischer Kräfte und tief verwurzelter, soziokultureller Frustrationen
mit nicht enden wollenden Widersprüchen sind. Sie sind es, die bestimmte
oder oft sogar große Teile einer Bevölkerung dazu bringen, sich gegen das
Unerträgliche zu mobilisieren.
Wann wird der Punkt erreicht sein, an dem die anhaltende Radikalisierung in
praktisch allen islamischen Ländern von Marrakesch bis Jakarta gestoppt
wird? Was ist unser Endspiel? Wenn wir millionenfach Gerechtigkeit für die
Palästinenser:innen fordern, dann sollte es kein Problem sein, genau
diese Stimmen zu bekommen, um gegen alle uns umgebenden Formen von
Intoleranz und Hass zu protestieren.
Wo sind die mutigen muslimischen, die wütenden arabischen Stimmen, die
Gerechtigkeit fordern gegen die Talibanisierung der gesamten muslimischen
Welt? Wann ist es endlich erlaubt, sich gegen die ständige
Instrumentalisierung des Islams zur Aufrechterhaltung von Hass und
messianischer Gewalt zu wehren? Warum wird weiterhin endlos geschwiegen?
Wann werden wir aufhören, im Namen der Religion zu töten? Schluss, aus, es
reicht!
## Frage des Überlebens
Das Elend allein kann keinen Widerstand hervorbringen; oft scheint es eine
hoffnungslose Demoralisierung des menschlichen Zustands zu zementieren.
Schlimmer noch: Wenn diese Verzweiflung den Menschen überwältigt, zerstört
sie seine Seele, seinen Geist und stellt letztendlich seine gesamte
Existenz infrage.
Die Frage des Überlebens scheint bei den wahren Gläubigen auf tödliches
Schweigen zu stoßen, insbesondere wenn es um das Leben unschuldiger Opfer
geht, die in muslimischen Ländern als auf der falschen Seite der Religion
angesehen werden.
Wenn man die grundlegenden Probleme hinterfragt, die tatsächlich im Namen
der Religion selbst und insbesondere in islamischen Ländern auftreten, wird
uns ständig gesagt: „Aber ja, der Islam ist eine friedliebende Religion.
Wissen Sie eigentlich, dass Frauen im Islam mehr Rechte haben als im
Westen? Und dass die Menschen in muslimischen Ländern glücklicher sind? Und
bestimmt wissen Sie auch, dass der wahre Islam nicht gezeigt wird, weil der
Westen ihn zerstört.“
## Nein zur Unterdrückung
Es scheint nie eine wirkliche Akzeptanz einer inneren Kritik sowohl des
ideologischen als auch des geistigen Reiches zu geben. Die Dogmen laufen
auf Hochtouren.
Wann werden unsere Menschen aus den arabischen und muslimischen Ländern
anfangen, Nein zur Unterdrückung in all ihren Formen zu sagen? Wann werden
wir aufhören, uns über diejenigen zu ärgern, die angeblich unseren
Propheten beleidigen? Wann werden wir uns tatsächlich dafür einsetzen, dass
politische und religiöse Autoritäten aufhören, die islamische
Rechtsprechung, geprägt von Scharia und Blasphemiegesetzen, zu
missbrauchen, um Repressionen in ebendiesen muslimischen Ländern
fortzusetzen?
Wann werden Migrant:innen wie ich, die bequem im Westen leben, den
kollektiven Mut aufbringen, gegen Frauenfeindlichkeit, Antisemitismus,
Rassismus, Hass auf andere religiöse und kulturelle Minderheiten, gegen
geschlechtsspezifische Gewalt, gegen bösartige Angriffe auf
LGBTIQ+-Gemeinschaften in unserem eigenen Hinterhof zu kämpfen?
## Beschämung der Opfer
Wann werden wir aufhören, das Unvertretbare zu verteidigen, und uns dem 21.
Jahrhundert anschließen, anstatt ständig dem Westen die Schuld an unserer
eigenen inneren Misere zu geben? Wann werden wir aufhören, die Opfer zu
beschämen? Und wann werden sich die Klänge des Adhan – unseres muslimischen
Gebetsrufs – zu denen von lachenden, sorglos tanzenden und spielenden
Kindern gesellen? Wann wird der Ruf des Muezzins nicht die einzig erlaubte
Stimme im öffentlichen Raum sein? Wann werden wir Muslime endlich zur
Normalität zurückkehren?
Wann?
Aus dem Englischen von Zuri Maria Daiß und Oliver L. Baurhenn
29 Aug 2021
## LINKS
[1] /Die-Linke-und-der-Islamismus/!5736354
[2] /Buch-von-US-Historiker-Alan-Mikhail/!5788293
[3] /Frauenrechte-in-Afghanistan/!5789534
## AUTOREN
Ibrahim Quraishi
## TAGS
Muslime
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