| # taz.de -- Ex-Vize-Außenministerin zu Afghanistan: „Ich habe Hoffnung für … | |
| > Naheed Esar war bis 2020 stellvertretende Außenministerin Afghanistans. | |
| > Ein Gespräch zwischen Schock, Enttäuschung und etwas Zuversicht. | |
| Bild: Viele auf dem Land sind für die Verschleierung: Mädchenschule im Nordos… | |
| Naheed Esar, 33, arbeitete von 2014 bis 2020 für die afghanische Regierung, | |
| als stellvertretende Außenministerin. Zuvor war sie als politische | |
| Aktivistin und Analystin tätig. Derzeit studiert sie in den USA | |
| Kulturanthropologie. Esar hegt mittelfristig Hoffnung, vor allem wegen der | |
| jungen Generation, die in den letzten 20 Jahren herangewachsen ist und für | |
| die Selbstbestimmung wichtig ist. Sie beobachtet aber auch den | |
| Schockzustand, in dem sich viele Menschen gerade befinden, und sieht einen | |
| enormen Vertrauensverlust gegenüber westlichen Organisationen. | |
| taz: Naheed Esar, haben Sie die Ereignisse, der schnelle Vormarsch der | |
| Taliban, der geringe Widerstand von Armee und Regierung, so überrascht wie | |
| offenbar die Regierungen in Europa und Nordamerika? Oder war es eine | |
| logische Entwicklung? | |
| Naheed Esar: Was geschah, konnte man schon voraussehen. Aber nicht, dass es | |
| so schnell geschehen würde. Die Geschwindigkeit ist unglaublich. Ich bin | |
| immer noch schockiert. Es ist wie ein Albtraum. | |
| Was vor allem verblüffte, war, wie schnell die Taliban lokale Kommandeure | |
| und Governeure gewinnen konnten, ihre Gebiete aufzugeben. Welche Logik, | |
| welche Motivation steckte dahinter? | |
| Die Taliban haben das Land niemals verlassen. Sie arbeiteten auf einem | |
| Graswurzelniveau und waren immer da. Die Lage wurde so plötzlich so | |
| chaotisch, dass jedermann in Angst versetzt war. Viele dachten nur noch an | |
| das eigene Überleben und das der unmittelbaren Familie. Man kann sie | |
| deswegen auch nicht verurteilen. Wir hören jetzt sehr schlimme Geschichten, | |
| wie die Dinge sich geändert haben, Familien wurden gefangen genommen. Es | |
| herrscht große Unsicherheit. | |
| Welche Entwicklung erwarten Sie für junge Frauen, wie Sie selbst es sind, | |
| mit einem Universitätsabschluss, mit beruflicher Erfahrung in Verwaltung, | |
| Politik oder dem Bildungsektor, mit einer Leitungsposition vielleicht oder | |
| auch mit eigenen Unternehmen? | |
| Das ist schwer zu sagen. Ich selbst habe einige Wechsel in meinem Leben | |
| durchgemacht. Ich war selbst Ziel von Angriffen. Aber was ich damals stets | |
| hatte, war Hoffnung. Der größte Unterschied jetzt ist der Verlust jedweder | |
| Hoffnung, für mich persönlich und für viele Frauen wie mich. Ich wünsche | |
| mir wirklich sehr, dass das neue Regime all die Errungenschaften für Frauen | |
| in den letzten 20 Jahren bestehen lässt, ja dass diese Entwicklung sogar | |
| weitergeht. | |
| Denn Frauen haben in ganz vielen Sektoren, sei es Bildung, sei es | |
| Wirtschaft, sei es Kultur, unglaublich viel beigetragen. In der Universität | |
| von Herat gab es zum allerersten Mal in unserer Geschichte überhaupt eine | |
| Mehrheit von 60 Prozent Studentinnen. Diese Generation hat sich selbst | |
| gebildet, sie hat viele Hürden dabei überwunden. Das darf nicht aufhören. | |
| Die größte Sorge ist, dass sie all das verlieren werden, was sie erreicht | |
| haben. Der wichtigste Kampf besteht darin, das nicht zuzulassen. | |
| Was genau muss dafür getan werden? | |
| Auf internationaler Ebene ist das Aufgabe von Politik, Diplomatie und | |
| Debatten. Man muss Druck auf das neue Regime ausüben. Es hat sich ja noch | |
| nicht richtig etabliert. Aber jede Regierung, die kommt, muss dazu | |
| verpflichtet werden, die Erfolge der letzten 20 Jahre nicht aufzugeben. Es | |
| geht um Menschenrechte, Bildung ist ein grundlegendes Menschenrecht für | |
| Frauen. Es geht auch darum, dass sie zur Wirtschaft beitragen, dass sie | |
| arbeiten können. Und auf lokalem Level geht es für Frauen, die bereits | |
| gearbeitet haben, darum, nicht die Hoffnung zu verlieren. | |
| Ihre Mutter organisierte während der ersten Herrschaft der Taliban eine | |
| Untergrundschule, um Mädchen und Frauen zu unterrichten. Müssen Frauen und | |
| Mädchen so etwas jetzt wieder tun, im Geheimen Schulen gründen? | |
| Ich war eines der Kinder, die einfach Glück hatten. Ich wuchs in einer | |
| Familie auf, in der die Mutter politisch aktiv war. Während der | |
| Taliban-Herrschaft betrieb sie eine illegale Schule. Ich war dort | |
| Schülerin. Jetzt in den USA zu studieren, ein Fulbright-Stipendium zu haben | |
| – all das ist nur deshalb möglich. Aber es ist schwierig, immer wieder | |
| diese Kraft aufzubringen, die eigenen Kinder zu unterrichten und die Kinder | |
| der Nachbarn. | |
| Und die Risiken waren groß. Hätte jemand von dieser Schule gewusst, die | |
| meine Mutter betrieb, ihr Leben wäre in Gefahr gewesen. Ich merke selbst, | |
| dass ich weiter Hoffnung hege, denn die heutige Generation ist nicht die | |
| Generation von vor 20, 30 Jahren. Wir sind eine Generation, für die | |
| Kommunikation national wie international sehr einfach, sehr | |
| selbstverständlich ist. Wenn es Übergriffe gibt, ist es heute viel | |
| einfacher, die Stimme zu erheben auf den sozialen Plattformen. | |
| Wie wird diese jüngere Generation auf die Taliban reagieren? Wird sie | |
| versuchen, ihre Art zu leben zu verteidigen? Oder ist bei manchen die | |
| Enttäuschung so groß, sind vielleicht auch die sozialen und ökonomischen | |
| Probleme so eklatant, dass für sie die Taliban attraktiv werden? | |
| Man kann das nicht generalisieren. Die Gesellschaft ist noch immer stark | |
| nach Stämmen organisiert. Es gibt große Unterschiede zwischen Stadt und | |
| Land. In den Städten ist die junge Generation mehr demokratischen Ideen | |
| zugewandt. In den ländlichen Regionen gibt es auch viele Menschen, die | |
| Demokratie für wichtig halten. Aber es gibt auch viele junge Leute dort, | |
| die ganz und gar nicht an Demokratie glauben, die meinen, Verschleierung | |
| für Frauen sollte wieder Pflicht werden. | |
| Sie wollen Frauen nicht in der öffentlichen Sphäre haben, sondern nur in | |
| der privaten, und sehen sie als Eigentum der Männer an. Aber das Wichtige | |
| ist, dass es inzwischen eine ganze Welle von Jüngeren gibt, die in den | |
| letzten 20 Jahren Bildung genossen haben, Männer wie Frauen, die erfahren | |
| haben, wie schön es ist, für sich selbst entscheiden zu können. Ich habe | |
| deshalb auch Hoffnung für das Land. Und ich möchte, dass auch der neuen | |
| Regierung klar ist, dass die Bevölkerung von Afghanistan nicht die gleiche | |
| ist wie vor 20 Jahren. Auch die Taliban sollten Menschenrechte und | |
| Frauenrechte achten. | |
| Welche Rolle spielten bei den Veränderungsprozessen in den letzten zwei | |
| Jahrzehnten Kunst und Kultur? Was sind die wichtigsten Errungenschaften der | |
| Kulturpoilitik? | |
| Das Wichtigste ist meiner Meinung nach der Austausch, vor allem über | |
| Internet und soziale Medien. Afghanínnen und Afghanen hatten auf diese Art | |
| Zugang zur globalen Community. Das war natürlich eher eine Einbahnstraße, | |
| Afghaninnen und Afghanen rezipierten, was von außen kam. Eine wichtige | |
| Rolle spielt bei uns das Singen. | |
| Halb im Scherz kann man sagen, dass es in Afghanistan mehr Sänger gibt als | |
| Publikum. Theater spielt auch eine Rolle. Ich habe selbst ein Theaterstück | |
| geschrieben, es aber nur in den USA aufgeführt. Wichtig waren | |
| Theaterproduktionen, die auch einen psychologischen Effekt hatten, mit | |
| Kriegswitwen zum Beispiel. Um tiefgreifende Effekte zu haben, müsste dies | |
| aber länger gehen. | |
| In Deutschland wird gerade sehr intensiv diskutiert, was mit den | |
| Ortskräften geschieht, den Menschen also, die für das westliche Militär | |
| oder die verschiedensten NGOs gearbeitet haben und die derzeit versuchen, | |
| das Land zu verlassen. Was man über die Situation am Flughafen Kabul | |
| erfährt, ist allerdings beängstigend. Sehr irritierend ist, dass vor allem | |
| deutsche Institutionen sich als weitgehend unfähig erweisen, ihre früheren | |
| Mitarbeiter*innen auszufliegen. Welche Signale sendet das aus? Werden | |
| Afghaninnen und Afghanen in Zukunft überhaupt noch gewillt sein, mit den | |
| internationalen Organisationen zusammenzuarbeiten, die sie jetzt | |
| offenkundig weitgehend im Stich lassen? | |
| Momentan sehe ich eher, dass frühere Regierungsmitarbeiter in Gefahr sind. | |
| Aber die Menschen, die für NGOs gearbeitet haben, fühlen sich tatsächlich | |
| im Stich gelassen. Sie haben Vertrauen verloren. Ich bin mit vielen von | |
| ihnen in Kontakt. Und was sie mir sagen, ist, dass die meisten von ihnen | |
| sich verraten fühlen von den Ländern, zu denen sie loyal waren. Ich glaube | |
| nicht, dass sie in naher Zukunft ihr Leben oder das ihrer Kinder riskieren | |
| wollen, indem sie erneut für diese Organisationen arbeiten, die jetzt ihr | |
| Leben nicht gerettet haben. | |
| 24 Aug 2021 | |
| ## AUTOREN | |
| Tom Mustroph | |
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