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# taz.de -- Interkulturelles Musikstück: Ein Protestsong in Form einer Kantate
> „Walls are tumbling down“ ist ein jüdisch-muslimisch-atheistisches
> Gemeinschaftswerk. In Dresden fand die öffentliche Generalprobe statt.
Bild: Auf der Bühne kommen Menschen verschiedener Kulturen zusammen
Werkstattatmosphäre im nicht zu seinem Vorteil als Szeneviertel
bezeichneten Stadtbezirk Dresden-Neustadt: Ein schmuckloser schwarzer, zur
Bühne hin abfallender Raum, ein Marimbaphon, ein Vibraphon, ein ausladendes
Schlagzeug mit einer Reihe Timpani, Notenständer, Monitore; das Ganze mehr
Klanglabor als Konzertsaal: Für den Montagabend hatten die ausgebildete
Komponistin Eunice Martins und der sich im Gespräch als Amateur ausgebende
Künstler und [1][taz-Autor Ibrahim Quraishi] zur öffentlichen Generalprobe
ihres Gemeinschaftswerks „Walls are tumbling down“ in das Staatsschauspiel
Dresden eingeladen.
Dessen oberes Stockwerk war gut gefüllt, das Publikum hörte zuerst
Bandaufnahmen des Schofar, eines liturgischen Blasinstruments aus der
jüdischen Religionstradition. Im Konzert spielten dann Avery Gosfield,
Shimon Friedberg und David Limburger die Hallposaune, wie der Schofar
treffend auch genannt wird.
Der Schofar hat eine jahrtausendealte, mythische Geschichte, sie führt
zurück bis zu der im letzten Moment abgesagten Opferung Isaaks durch
Abraham und dem Einsturz der Mauern Jerichos durch die Posaunen der
Priester. Das Theatergebäude, so viel kann an dieser Stelle bereits
verraten werden, hat die Aufführung von Martins’ und Quraishis
siebenteiliger Kantate überlebt, obwohl sie die eine oder andere Vibration
im Gebälk ausgelöst haben dürfte.
Geleitet von der Dirigentin Sara Isabel Grajales Tamayo, geriet „Walls are
tumbling down“ zu einer oft überraschenden Mixtur aus minimalistischen,
ruhigen Blöcken und zumeist perkussiven, dynamischeren Passagen.
Marschmusikalische Elemente
Die Streicher, namentlich die Cellistinnen Danielle Akta und Katrin
Meingast, wussten, wie man Schönklang aus dem Weg geht, ohne dabei
geräusch- und rauschhaft aufzutrumpfen; den Perkussionisten Eduardo Mota,
Georg Wieland Wagner und Samuel Dietze gelang es, scharf und kantig zu
spielen, ohne das zum Selbstzweck werden zu lassen. Das perkussive,
gelegentlich marschmusikalische Element erklären Martins und Quraishi mit
ihrem Wunsch, so etwas wie einen epischen Protestsong zu schreiben.
Tatsächlich sprachen die Schauspieler Komi Togbonou und Khalid Abubakar
einen Text, der seinen Ernst der momentanen, allerdings auch nicht über
Nacht entstandenen Situation zu verdanken haben dürfte. Das Libretto ist
das Werk einer kollektiven Intelligenz. Quraishi, Togbonou und Martins
haben eigene und andere Stimmen kompiliert: Zitate des Dichters Adonis oder
des Philosophen Giorgio Agamben, [2][der Dramatikerin Elfriede Jelinek]
oder aus der oralen Überlieferung der Hopi-Indianer, mit denen Togbonou
seinen Auftritt eröffnete: „Diesen Moment, den die Menschheit gerade
erlebt, kann man als eine Tür oder als ein Loch betrachten. Die
Entscheidung, ob man in das Loch fällt oder durch die Tür geht, liegt bei
einem selbst.“
Den ersten Satz wird niemand bestreiten, der zweite deutet allerdings einen
Pfad ins Esoterische an, der in der Folge noch ausgebaut werden sollte.
Überzeugender waren die Momente, in denen der Text sich auf den Weg in die
konkreten Niederungen der spätkapitalistischen Dystopie machte.
Skepsis und Zweifel
Das letzte Drittel artikulierte Skepsis und Zweifel. Mehr davon wären
angebracht, schließlich sind es Gewissheiten, die zu Grausamkeiten führen
können. Die Schriftstellerin Christa Wolf und der Dramatiker Heiner Müller,
zwei von Quraishi verehrte DDR-Bürger, wussten davon.
Das heißt nicht, dass jegliche Utopie verbannt gehört, im Gegenteil. Für
den Zukunftsgesang sorgten die Sopranistin Dorothea Wagner, der Bariton
Leon Gauning, der Synagogalchor der Jüdischen Gemeinde zu Dresden und der
Jugendkammerchor der Singakademie Dresden unter der Leitung von Michael
Käppler.
„Walls are tumbling down“ lebt vom Zusammenspiel zweier Ansätze: Der eine
ist der von Ibrahim Quraishi vertretene insistierende, der bei dem
bekennenden Fan der [3][Einstürzenden Neubauten] übrigens nicht
unfreundlich daherkommt; der andere ist Eunice Martins’ Fokus auf das
Gemeinschaftliche.
Die Hauspianistin des Berliner Kinos Arsenal weist im Gespräch darauf hin,
dass „Walls are tumbling down“ ein work in progress ist, dessen Gestalt
sich analog zu den jeweiligen Auftrittsorten und Mitwirkenden gestaltet.
Deren Namen deuten es an: Bei Martins und Quraishi stehen Menschen auf der
Bühne, die den Querschnitt einer lokalen Straßenbahnfahrt abbilden könnten.
Am Morgen nach dem Konzert empfahl sich ein Spaziergang langsam aus der
Neustadt heraus. Linker Hand in Richtung Bahnhof wies ein Baustellenschild
auf drei über die Jahre ramponierte Stadtvillen hin, die jetzt mit Geld aus
München aufgewertet werden sollen. Was auf einer der versiegelten Fassaden
fehlt, ist ein Graffito aus der Glücksritterzeit nach 1989: „Das Kapital
ist schlauer / Geld ist die Mauer.“ Dass der Zweizeiler simpel ist, ändert
nichts an seiner Richtigkeit.
12 Feb 2025
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## AUTOREN
Robert Mießner
## TAGS
Musik
Judentum
Islam
Protestsong
Geflüchtete Frauen
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Kunstkritik
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