| # taz.de -- Deutsche Asylpolitik: Die Hölle der anderen | |
| > Deutschland erschafft sich seine eigenen Täter. Denn nicht der Migrant | |
| > ist pervers, sondern die Situation, in der er lebt. | |
| Bild: Sammelunterkunft, offiziell „Gemeinschaftsunterkunft“ | |
| Im deutschen Asylrecht ist es nicht vorgesehen, den Bundesländern | |
| Vorschriften zur Unterbringung von Asylsuchenden zu machen. Doch eines | |
| haben dennoch alle gemeinsam: die Sammelunterkunft, offiziell | |
| Gemeinschaftsunterkunft. Diese Bezeichnung ist interessant, da hier nur | |
| selten Gemeinschaften gebildet werden, wie aus verschiedenen Berichten von | |
| Pro Asyl, internationalen Menschenrechtsorganisationen und UN hervorgeht. | |
| Das Gegenteil ist der Fall: Es treffen an diesen eher von Lagern | |
| inspirierten Orten verschiedene Fluchthintergründe und -geschichten, | |
| kulturelle Kontexte, religiöse Anschauungen und Traumata schonungslos | |
| aufeinander. | |
| Aufgrund von Einsparungen der Länder und des Bundes sind in diesen | |
| Unterkünften meist zu viele Menschen auf zu engem Raum untergebracht, ohne | |
| ausreichende Betreuung und häufig unter der Leitung privater Betreiber ohne | |
| staatliche Kontrolle. Die Idee, die sich in den 1990er Jahren mit der | |
| „Überforderung“ durch die vielen Geflüchteten des Jugoslawienkrieges | |
| durchgesetzt hat, ist, dass man auch hier vor Ort abschrecken müsse. Es | |
| darf den Menschen nicht zu bequem gemacht werden beim Warten auf Asyl, | |
| Abschiebung oder Duldung. Doch eine solche Strategie ist ähnlich wirksam | |
| wie Atomwaffen zum Schutz vor Krieg. Sie setzt nicht nur Menschenrechte | |
| außer Kraft, sondern verweigert Asylsuchenden schlicht Respekt. | |
| Studien von Organisationen wie dem Flüchtlingsrat Niedersachsen und Pro | |
| Asyl zeigen, dass Geflüchtete oft entmündigt werden. Dieses Entmenschlichen | |
| geschieht sowohl innerhalb des Unterbringungssystems als auch in der | |
| Gesellschaft, wo ihre Unterkünfte als Orte der Hoffnungslosigkeit und in | |
| ihrer Überfüllung als Symbol für eine vermeintliche Migrationskrise stehen. | |
| Hier – da können wir uns sicher sein – entstehen allein Solidarisierungen | |
| aufgrund des fremden, meist geschmacklosen Großküchenessens, denn selber | |
| darf nicht gekocht werden. Durch schlechtes Essen, Lärm, fehlende Hygiene | |
| und begrenzte Freizeitmöglichkeiten entsteht Frustration. Unterschiedliche | |
| religiöse Überzeugungen und kulturelle Werte sowie Enge, Gängelung und | |
| Trostlosigkeit führen zusätzlich zu Spannungen, wodurch eine konfliktreiche | |
| Dynamik entsteht, die Aggressionen begünstigt. | |
| Der Aufenthalt schafft keine bessere Zukunft – weder für die | |
| Bewohner*innen noch für die Gesellschaft, deren deutsche Lebensrealität | |
| kaum in die dysfunktionalen Gemeinschaftsunterkünfte vordringt. Dies ist | |
| meist eh nicht gewollt und so erscheint im besten Fall ein fades Abbild der | |
| Wirklichkeit, im schlimmsten Fall [1][das einer feindseligen Außenwelt] – | |
| einer Gesellschaft ohne Empathie, die nur als das gefahrvolle „andere“ | |
| wahrgenommen werden kann, als ein Monster, dass einem an den wenigen | |
| Berührungspunkten, die entstehen, meist feindlich gesinnt ist. | |
| ## Deutsche können sich die Zustände nicht vorstellen | |
| Die ursprünglich auf sechs Monate begrenzte Aufenthaltsdauer in den Heimen | |
| hat sich aufgrund von Wohnraummangel, überlasteten Behörden und Gerichten | |
| sowie fehlendem politischem Willen stark verlängert. Die Annahme, dass das | |
| Dublin-II-Abkommen Migration nach Deutschland reduzieren würde, hat sich | |
| längst als falsch erwiesen. | |
| Viele Deutsche können sich die Zustände in Sammelunterkünften schwer | |
| vorstellen. Es gibt die Erfahrung und es herrscht die Erwartung, der Staat | |
| werde sich um alles kümmern – warum nicht auch um Migrant*innen? | |
| Gleichzeitig gibt es Stimmen, die den Geflüchteten die Verantwortung für | |
| ihre Situation zuschieben. Sie hätten doch ihre Scholle selber retten | |
| können, jetzt kommen sie als Asyltouristen und Sozialschmarotzer! | |
| In Deutschland herrscht Angst! Ganz klar besonders vor männlichen | |
| Migranten, weil die ihre Libido nicht im Griff haben – eine Erzählung, die | |
| spätestens [2][seit den „Nafris“ in Köln] 2015 herumschwirrt. Die | |
| Vorstellung dahinter scheint der heißblütige Mann aus dem Süden zu sein, | |
| der auf brutale Art sich Nachwuchs erschleicht, seiner Frau eine Burka | |
| überwirft und sie ins Haus an den Herd sperrt. Da ist es wieder, das | |
| Monster! | |
| ## Psychose statt Ideologie | |
| Kurzum, wenn also ein syrischer Mann [3][in Solingen bei einem Stadtfest | |
| auf 11 Menschen mit einem Messer einsticht] und 3 der Opfer sterben, dann | |
| ist das vielleicht auch ein hausgemachtes Problem, dem wir als Gesellschaft | |
| gegenüberstehen, ausgelöst durch eine Traumatisierung von Migrant*innen. | |
| Diese Traumata sind eng mit gesellschaftlichen Strukturen und | |
| Machtverhältnissen verbunden. Viele der Betroffenen entwickeln zusätzlich | |
| Psychosen, die potenziell zu psychotischen Handlungen führen können. Häufig | |
| wird dies nicht ausreichend wahrgenommen oder als ideologisch motivierte | |
| Reaktion, etwa als religiöse Indoktrination, dargestellt. | |
| Seien wir also ehrlich: Diese Zustände haben wir selbst geschaffen. | |
| Zur Verdeutlichung ein Rückgriff auf Sartres Theaterstück „Geschlossene | |
| Gesellschaft“, in dem sich drei Personen nach ihrem Tod in der Vorhölle | |
| wiederfinden. Dort stellen sie fest, dass ihr Leben eine Qual war, | |
| insbesondere durch die Unmöglichkeit, authentisch zu leben. Die Lehre | |
| daraus ist, wenn wir uns der eigenen Freiheit und Verantwortung nicht | |
| stellen können, weil wir ständig im Urteil der anderen gefangen sind, dann | |
| sind die Hölle die anderen. Indem wir Menschen, wenn wir über sie denken, | |
| sprechen oder schreiben, in ihrer Würde auf ein Minimum reduzieren, | |
| schaffen wir diese Hölle, aus der frustrierte Männer und Frauen fluten, die | |
| in ihrem Drang nach Selbstermächtigung zu extremen Taten greifen. | |
| Die Schuld? Sie liegt nicht [4][beim Islamischen Staat], sondern bei uns. | |
| Wir, unsere Gesellschaft, unsere Ängste und auch Gier, schaffen diese | |
| „autonomen Zonen“, in denen sich Psychosen entwickeln, die zu Gewalt | |
| führen. Oder, um es mit Rosa von Praunheim zu sagen: Nicht der Migrant ist | |
| pervers, sondern die Situation, in der er lebt. | |
| 24 Oct 2024 | |
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| ## AUTOREN | |
| Ibrahim Quraishi | |
| Oliver Baurhenn | |
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