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# taz.de -- Die These: Im Krieg muss Kunst politisch sein
> Die große Frage ist: Kann Kunst die Welt zum Besseren verändern? In
> Kriegszeiten ist das keine Frage mehr, sondern ein Imperativ.
Bild: Szene aus dem Film „Donbass“ von Sergei Loznitsa
Es gibt eine Frage, die in jedem bewaffneten Konflikt irgendwann gestellt
wird: Was ist die Rolle von Kunst? Es gibt Stimmen, die es für falsch
halten, wenn sich Kunst in politische Realitäten einmischt.
Angesichts des grauenvollen Krieges in Syrien schrieb der US-amerikanische
Kunstkritiker Kelly Grovier 2015 im Magazin der Royal Academy of the Arts:
„Politik sollte die Kunst nicht dominieren. Kunst mit einer Agenda ist
selten gute Kunst. Die einzige Verpflichtung, die die Kunst hat, besteht
darin, ihr Publikum in die Lage zu versetzen, tiefer darüber nachzudenken,
was es bedeutet, auf der Welt zu sein.“ So verstanden ist Kunst
Sinnstiftung für den in die Welt geworfenen Menschen. Eine Art
Religionsersatz. Was für eine seltsame Position.
Künstler*innen sind von der Gesellschaft, der Kultur, der Umwelt, der
Sozialisation von Ort und Zeit, in der sie leben, beeinflusst. Ob
klassische Malerei (wie Picassos „Guernica“-Darstellung des Spanischen
Bürgerkriegs) oder Computerspiele (die die aktuelle russische Invasion in
der Ukraine simulieren können), Kunst entsteht in der Gesellschaft und
steht nie außerhalb von ihr. Auch und erst recht nicht im Krieg. Sollten
Künstler*innen in Zeiten des Krieges trotzdem die Klappe halten?
Ich finde: Nein.
Es gibt im Krieg keine neutrale Position. Und in der Tat ist es ja so, dass
es in diesen Tagen sogar sehr viele Künstler*innen gibt, die Flagge
zeigen.
Aber.
Aber es stellt sich angesichts der symbolischen Aktionen, wie Gebäude in
Ukraine-Farben anstrahlen oder Strumpfhosen mit „No war“ besticken die
Frage, welche Kraft Kunst wirklich hat. Kann sie ein Fenster zur Landschaft
des Grauens öffnen und wirksam vor dem Leid warnen, das sich dort
abzeichnet?
Erich Maria Remarque, der ein Zeugnis des ultimativen Grauens der
Schützengräben des Ersten Weltkriegs schrieb, ist gescheitert. Sein Roman
„Im Westen nichts Neues“, der noch im Erscheinungsjahr 1929 in 26 Sprachen
übersetzt und eines der meistverkauften Bücher seiner Zeit wurde, konnte
nicht verhindern, dass Adolf Hitler und seine Kumpane eine hochentwickelte,
hochgebildete Industriegesellschaft in die Barbarei und die ganze Welt in
den nächsten Krieg trieb.
Dagegen stehen heute visuelle, mediale und performative Kunstformen, die
die Propaganda eines Akteurs sehr wohl stärken oder schwächen, befördern
oder kritisieren können. Der ukrainische Präsident Wolodymyr Selenskyj
beispielsweise hat durch sein Gespür für eine gute Inszenierung und sein
schauspielerisches Talent seinem Anliegen – der Unterstützung des
ukrainischen Widerstands gegen die Invasion Putins – eine enorme
Strahlkraft verliehen.
## Der Futurusmus arbeitete Mussolini zu
Nichtsdestotrotz gibt es eine Reihe von prominenten künstlerischen
Interventionen in der Kriegsgeschichte des 20. Jahrhunderts, die als
radikal gefeiert wurden, die aber im Rückblick mit etwas anderen Augen
betrachtet werden. Während der Futurismus und seine Feier des Mordens und
Tötens heute als Vorbild für den faschistischen Staat Benito Mussolinis
gilt, ist Susan Sontags Aufführung von „Warten auf Godot“ 1993 im
belagerten Sarajevo bisher als mutiger Auftritt für den Frieden gefeiert
worden.
Susan Sontag ging damals unter Gefahr für ihr eigenes Leben nach Bosnien,
um die Aufmerksamkeit auf das Leid der Bewohner*innen der unter
Beschuss stehenden Hauptstadt zu lenken. Im Nachhinein – sie erhielt die
Ehrenbürgerschaft der Stadt und der Platz vor dem Nationaltheater wurde
nach ihr benannt – muss man sich allerdings fragen, ob ihre Aktion nicht
vor allem ihrer Person Aufmerksamkeit brachte und nicht dem, was dort
passierte.
Ein weiteres Problem von politisch sich einmischender Kunst sind die immer
undurchdringlicher miteinander verwobenen Verhältnisse zwischen staatlichen
und nichtstaatlichen Akteuren insbesondere in den medialen Sphären. Sie
machen es praktisch unmöglich, als Künstler*in eine Position zu beziehen,
die nicht irgendeine Seite für sich vereinnahmen kann.
## Keine Faszination für Krieg
Die Frage ist also eigentlich nicht mehr, wie die Kunst Menschen in Museen,
Galerien, Konzertsäle und an ihre Werke lockt, um sie dazu zu bewegen, sich
mit etwas auseinanderzusetzen. Die Fragen der Kunst sind viel
komplizierter: Wie können Künstler*innen verhindern, dass ihre Werke in
den medialen Sphären zweckentfremdet werden? Welche Rolle spielt die
Identität der Künstler*innen nicht nur in der Produktion, sondern auch
der Rezeption ihrer Werke? Wie kommen Künstler*innen gegen den Mythos
an, dass die Kunst über den Dingen steht? Wo hört Engagement auf und wo
beginnt künstlerische Eitelkeit? Wo schlägt die Auseinandersetzung mit dem
Krieg in Faszination um?
Ein anschauliches Beispiel, wie Künstler*innen sich in Kriegen
solidarisch verhalten können, ohne dabei auf Selbstvermarktung zu schielen,
ist der international gefeierte ukrainische Mathematiker und Filmemacher
Sergei Loznitsa, der [1][mit seinen Dokumentarfilmen über die
Maidan-Proteste], das Massaker von Babyn Jar oder auch dem über die Pariser
Oper berühmt ist. Er ist einer der prominentesten ukrainischen Regisseure,
dessen Low-Budget-Dokudrama [2][„Donbass“] (2018) den Prix Un Certain
Regard in Cannes gewonnen hat und der das Drama dessen, was wir heute
erleben, vorwegnahm.
Seine Werke sind verstörende, äußerst intensiv recherchierte Dokumente, die
versuchen, vermeintlich weit auseinanderliegende Dinge miteinander in
Verbindung zu bringen, um so deutlich zu machen, wie viele verschiedene
Ebenen ein Ereignis, eine Handlung, eine Inszenierung haben kann. Und dass
das Grauen beispielsweise immer auch von absurder Poesie und schwarzem
Humor begleitet wird.
## Opfer der Eindeutigkeit
Ausgerechnet Loznitsa, der in Berlin lebt und immer um absolute
Detailgenauigkeit bemüht ist, wurde nun ein Opfer der Eindeutigkeit, die
der Krieg verlangt. Loznitsa hatte sich zu Beginn der Invasion in die
Ukraine offen gegen den Krieg Putins positioniert. Aber er hatte auch
gefordert, [3][nicht alle russischen Filmemacher*innen zu
boykottieren], schon gar nicht jene, die sich gegen das Putin-Regime
stellten. Für diese Haltung wurde er letzte Woche von der ukrainischen
Filmakademie ausgeschlossen. Für Details ist im Krieg kein Platz. Umso
wichtiger ist es, für sie einzutreten.
Verdrängen und vergessen ist aber selten eine gute Lösung. Auch nicht in
Zeiten des Krieges. Kunst kann und muss den Versuch unternehmen, unabhängig
zu bleiben und dabei trotzdem einen Weg zu gehen, der Mitgefühl in Zeiten
der Gewalt durchzusetzen hilft.
Auf die Frage, was Künstler*innen tun können, antwortete Loznitsa
kürzlich ohne mit der Wimper zu zucken: „Ich kann nur sagen: Filmt weiter,
filmt weiter, filmt weiter, damit wir die Dokumentation für eine spätere
Analyse haben, und seid im Hier und Jetzt mit eurer Kunst.“ Mit anderen
Worten: Positioniert Euch!
Aus dem Englischen Oliver Baurhenn.
30 Mar 2022
## LINKS
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[3] /Regisseur-ueber-Westen-im-Ukrainekrieg/!5838212
## AUTOREN
Ibrahim Quraishi
Ibrahim Quaraishi
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