# taz.de -- Graphic Novels zu Russland und Ukraine: Ästhetik des Widerstands | |
> Olga Lawrentjewa erzählt in „Surwilo“, wie der stalinistische Terror üb… | |
> ihre Familie kam. Igort lädt zu Comicreportagen über die Ukraine ein. | |
Bild: Ausschnitt aus der Graphic-Novel „Surwilo“ von Olga Lawrentjewa | |
Bis zum November 1937 verlief Walja Surwilos Kindheit unbeschwert und | |
glücklich. Die Zwölfjährige lebte mit ihren Eltern und der älteren | |
Schwester Ljalja in einer geräumigen Wohnung in Leningrad, dem heutigen | |
Sankt Petersburg. Bis zu jenem Tag, an dem ihr Vater „geholt“ wurde. | |
Verhaftet. Wegen Sabotage und Spionage. | |
Waljas Mutter sowie die Freunde reagierten mit Unverständnis. Da musste | |
doch ein Irrtum vorliegen. Denn der Vater ging auf in seiner Arbeit als | |
Ausbilder in einer Schiffswerft, war [1][ein überzeugter Kommunist, sogar | |
Parteimitglied]. | |
Doch die Familie sollte nie mehr von ihm hören. Sie musste in die | |
Verbannung ziehen, nach Baschkortostan, im äußersten Osten Europas. Sie | |
lebte dort in kleinen Dörfern, geächtet als „Volksfeinde“. An eine | |
vernünftige Wohnung oder Arbeit wie noch in Leningrad war hier nicht zu | |
denken. | |
Noch in hohem Alter sollte Walja die Verhaftung des Vaters als „das | |
Unglück“ bezeichnen, ein Verhängnis, das lange auf der Familie lastete. | |
1958, nach über 20 Jahren, wurde ihr Vater „rehabilitiert“. Und damit auch | |
die Angehörigen: Die Vorwürfe stellten sich als komplette stalinistische | |
Erfindung heraus. Walja konnte versuchen, ein „normales“ Leben in der | |
Sowjetunion zu führen, ohne permanente Sonderbehandlung. | |
## Traumatische Erlebnisse in der Jugend | |
Die 1986 geborene russische Zeichnerin Olga Lawrentjewa erzählt und | |
zeichnet in tiefschwarzer Tusche das Leben ihrer Großmutter als Graphic | |
Novel, deren Familie Surwilo hieß und aus einem gleichnamigen Ort im | |
heutigen Belarus stammt. Die Großmutter erzählte der Enkelin von den | |
traumatischen Erfahrungen ihrer Jugend. Die Zeichnerin findet für diese | |
eindringliche, düstere Bilder. Sie erzählt von dem „unerklärlichen Unglüc… | |
konsequent aus der Sicht Waljas. | |
Als weiteres prägendes Ereignis kommt der Zweite Weltkrieg hinzu. Nachdem | |
Walja 1941 nach Leningrad zurückkehrte und dort im Krankenhaus als | |
Sanitäterin arbeitete, brach die über zwei Jahre andauernde Blockade der | |
Stadt durch die deutsche Wehrmacht herein, Kälte, Hunger und Tod unzähliger | |
Menschen. Olga Lawrentjewa bettet ihre Geschichte in eine Rahmenhandlung, | |
in der sie als kleines Kind ihre Oma zum Pilzesammeln in die Wälder | |
begleitet. | |
Es entsteht ein glaubwürdiges, eindringliches Porträt einer Generation, die | |
vom sowjetischen Obrigkeitsstaat von Anfang an zum erbarmungslosen Gehorsam | |
geknechtet wurde. Jeder Widerstand gegen die Sowjetdiktatur erschien | |
unmöglich. | |
Doch hinter der harmonischen Ehe Waljas mit dem Kindheitsfreund Petja und | |
dem nach der Rehabilitierung weitgehend ruhigen Leben verschwinden erlebte | |
Ungerechtigkeiten und Kriegserlebnisse nicht. Erst zu Zeiten der | |
Perestroika in den 1990ern erfuhr sie endlich vom Schicksal ihres Vaters. | |
## Thema Stalinismus | |
Lawrentjewas in expressivem, getupftem Stil gehaltene Graphic Novel wurde | |
in Russland 2019 veröffentlicht. Sie kann als ein geglücktes Beispiel für | |
eine kritische künstlerische Auseinandersetzung mit dem Thema Stalinismus | |
gelten, noch dazu in der in Russland selten zu findenden Comicform. | |
Eine wichtige russische Stimme der Kritik, die in dieser Zeit des – | |
notwendigen – Blicks auf die Ukraine nicht übersehen werden sollte. Das | |
sowjetische Unterdrückungssystem, welches Putin zu verlängern sucht, | |
wirkte in Russland wie in dessen „Randgebieten“. | |
Die spezifisch ukrainischen Auswirkungen des stalinistischen Terrors stellt | |
[2][der italienische Comiczeichner Igort (Igor Tuveri)] dar. 1958 geboren, | |
hat er Ende der 2000er Jahre die ehemaligen Sowjetrepubliken Ukraine und | |
Russland bereist, um die Veränderungen zwischen dem alten System und den | |
neu entstandenen Gesellschaften einzufangen. | |
Seine Comicreportage „Berichte aus der Ukraine“ (2009) ist heute wieder | |
erschreckend aktuell. Igort porträtiert normale Leute, die ihm zufällig | |
begegnet sind, und die er bat, ihm ihre Lebensgeschichte zu erzählen. | |
## „Aus Versehen“ erschossen | |
Darunter den ehemaligen Rote-Armee-Offizier Andrej, der ihn offen fragt, ob | |
er ein Spion sei und ihn zu einem Schießplatz einlädt. Igort lehnte ab – am | |
nächsten Tag wurde dort ein Staatsanwalt „aus Versehen“ erschossen. Oder | |
Nikolai, der früher in einer Kolchose, einem landwirtschaftlichen | |
Großbetrieb arbeitete, und der späten Sowjetära nachtrauert, die er als | |
solider empfand als die heutige Zeit, in der „das Land in Stich gelassen“ | |
worden sei. | |
Insgesamt überwiegen jedoch die kritischen Stimmen hinsichtlich der | |
Sowjetzeit. Etwa wenn die alte Serafina von der großen Hungersnot erzählt, | |
dem „Holodomor“. Igort hebt dieses Ereignis besonders hervor, stellt | |
wichtige historische Fakten dazu ausführlich dar. In schwarz-weißen Bildern | |
erzählt er vom Fünfjahresplan Stalins 1928, von der Zwangskollektivierung | |
und der rücksichtslosen Diskriminierung der Kulaken – angeblich immer | |
wohlhabende, oft aber arme Bauern, die auf brutale Weise enteignet, | |
deportiert oder ermordet wurden. | |
Der für die stalinistische Repression zuständige Funktionär, Lasar | |
Kaganowitsch, formulierte angesichts des zivilen Widerstands damals: „Es | |
existiert keine ukrainische Kultur.“ Er setzte die Maßnahmen brutal durch | |
die Geheimpolizei Tscheka durch. Ebenso erschütternd sind die Passagen, in | |
denen Igort die Folgen für die ukrainische Bevölkerung veranschaulicht. | |
Da die Ernten an Russland oder für Exporte abgegeben werden mussten, hatten | |
die Bauern selbst nicht genug zu essen übrig. | |
## Massensterben von Millionen Ukrainern | |
So wurde die Bevölkerung systematisch ausgehungert, was auch zu | |
Kannibalismus und schließlich zum Massensterben von 3 bis 7 Millionen | |
Ukrainern in der Sowjetunion 1932/33 führte. Der Holodomor wurde lange | |
totgeschwiegen und war auch im Westen kaum bekannt. Dafür sorgte die | |
sowjetische Praxis, dass das Wort „Hungertod“ bei hoher Gefängnisstrafe | |
verboten wurde, ebenso wie jede Berichterstattung dazu. | |
Auch im Igorts zweitem Reportageband „Berichte aus Russland“ gibt es solche | |
stupenden Momente, die an heutige Verhältnisse denken lassen. Sie legen | |
eine klare Kontinuität brutaler russischer Machtpolitik und staatlicher | |
Zensur in Orwell’schem Ausmaß nahe. | |
Hier geht es um den Zweiten Tschetschenienkrieg (1999–2009), in dem | |
russische Milizen mit Mord- und Foltermethoden gegen die Aufständischen | |
wüteten. Zwischen Zivilbevölkerung und tatsächlichen Dschihadisten wurde | |
dabei kein Unterschied gemacht, alle konnten wie Terroristen behandelt und | |
somit misshandelt werden. Um die Meinungsfreiheit war es schon um 2006 in | |
Russland schlecht bestellt, als [3][die couragierte Journalistin Anna | |
Politkowskaja] und andere aus ihrem Umfeld ermordet wurden. | |
Igort findet einfühlende Bilder, meist aquarelliert und auf der Grundlage | |
von Fotos gezeichnet, für die schockierenden Berichte von den vielen Opfern | |
der russischen Milizen. Jenen, die die Folter überlebten oder Angehörige | |
Ermordeter waren. | |
Seit Beginn des russischen Überfalls auf die Ukraine arbeitet der Italiener | |
an einer Fortsetzung seiner Ukraine-Berichte: Eine Chronik des Überfalls | |
auf die [4][Ukraine, ein Tagebuch] „aus dem Inneren eines Bruderkriegs“ | |
soll dabei entstehen. Mithilfe seiner in der Ukraine geknüpften Kontakte | |
setzt er Telefongespräche mit Augenzeugen in Comicsequenzen um. | |
## Geschichte nicht aufgearbeitet | |
Sowohl Olga Lawrentjewas Graphic Novel wie auch Igorts Comicreportagen | |
zeigen auf erschütternde Weise, wie wenig überraschend die Geschehnisse in | |
der Ukraine von 2022 in Hinblick auf die russische Geschichte und imperiale | |
Geopolitik sind. | |
Die Wiederholung früher erprobter, „erfolgreicher“ Methoden, um innere | |
Konflikte niederzuschlagen oder freiheitliche Bewegungen der Randgebiete | |
wieder gewaltsam ins System einzugliedern, lässt nur den Schluss zu, dass | |
die russische Gesellschaft [5][die eigene Geschichte nie wirklich kritisch | |
aufgearbeitet hat] – oder nie eine Möglichkeit dazu entwickeln konnte. | |
23 Mar 2022 | |
## LINKS | |
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[4] /Tagebuch-eines-Schriftstellers/!5840659 | |
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## AUTOREN | |
Ralph Trommer | |
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