# taz.de -- Igort und sein Comic „Kokoro“: Liebeserklärung mit Retro-Touch | |
> Eine meditative Reise durch die japanische Kultur unternimmt der | |
> italienische Comiczeichner Igort in seinem Bilderbuch „Kokoro“. | |
Bild: Porträt aus dem Kapitel über die Gekiga-Bewegung in der Graphic Novel �… | |
Japan hat den italienischen Comiczeichner Igort nachhaltig beeindruckt. | |
Immer wieder kehrt er dorthin zurück, um Freunde zu besuchen, die er in den | |
1990er Jahren, [1][als er als Mangaka einige Jahre in Tokio arbeitete], | |
kennenlernte, und um ihm lieb gewordene Orte wieder aufzusuchen. Zwei | |
Bücher hat er bereits dieser Liebe gewidmet, [2][die als „Berichte aus | |
Japan“ auch auf Deutsch] erschienen sind (2016: „Eine Reise ins Reich der | |
Zeichen“, 2018: „Ein Zeichner auf Wanderschaft“). | |
Mit dem Bilderbuch „Kokoro“ (wie die anderen Bände im Berliner Reprodukt | |
Verlag erschienen) legt der 1958 geborene Künstler nun noch einmal nach, | |
indem er Skizzen- und Tagebücher verschiedener Japan-Besuche auswertet. | |
Während die anderen beiden Bände umfassende Exkurse in die [3][Manga-, | |
Anime- und Kunstgeschichte] boten, ist der neue Band luftiger und mutet oft | |
wie eine Meditation an. Der Rhythmus ergibt sich aus der Gegenüberstellung | |
pointierter handschriftlicher Notizen mit Zeichnungen Igorts. Das | |
Querformat unterstützt diese Struktur: links steht der Text, rechts ein | |
seitenfüllendes Bild, in feiner Aquarelltechnik angefertigt. | |
In den Texten erklärt Igort unter anderem japanische Begriffe, die eine | |
spezielle kulturelle Bedeutung haben. So steht am Anfang das titelgebende | |
Wort „Kokoro“, das in Japan das Herz im spirituellen Sinne meint. | |
## Japanische Variante des „Lolita“-Mythos | |
Auch manch [4][typisch japanisches (popkulturelles) Phänomen] wird | |
beleuchtet, wie eine landeseigene Variante des „Lolita“-Mythos, die sich | |
„kawaii“ nennt (dt. niedlich, liebenswert). Sie zeigt sich vor allem in der | |
parodienhaften Kleidung und dem Gebaren junger Frauen, die stylishe | |
Schulmädchen- oder Krankenschwesteruniformen sowie Miniröcke tragen und | |
dazu eine Art Babysprache sprechen. | |
Manchmal bilden auch alte Bleistiftskizzen den Ausgangspunkt: In einfachen | |
Notizbüchern, die der Zeichner unterwegs auf seinen Ausflügen in Japan | |
kaufte, hielt er Gedanken fest oder skizzierte Orte und Alltagsgegenstände. | |
Die meisten Zeichnungen entstehen jedoch aus Vorlagen und Fundstücken. So | |
zeichnet Igort etwa Cover oder Fotos aus alten Zeitschriften der 50er Jahre | |
ab und zaubert daraus sehr stimmungsvolle, pastellfarbene Aquarelle mit | |
Retro-Touch. Auch widmet er den meditativen Filmen Yasujiro Ozus und der | |
Schauspielerin Setsuko Hara ein Kapitel, in dem er den Film „Die Reise nach | |
Tokio“ von 1953 bündig nacherzählt und Schlüsselszenen im Stil japanischer | |
Farbholzschnitte nachzeichnet. | |
Der Film handelte von einem älteren Paar vom Lande, das seine berufstätigen | |
Kinder in Tokio besucht, dabei prallen zwei unversöhnliche Welten | |
aufeinander. Das Herz des Films ist laut Igort die ausdrucksstarke Setsuko | |
Hara, der es in der Rolle der Schwiegertochter als Einziger gelingt, die | |
alten Leute einzubeziehen. | |
## Eine Verbindung zur Natur | |
Igort zeigt, was die Filme Ozus ausmachten: Mittels einfachster Geschichten | |
konnten sie starke Emotionen hervorrufen und eine Verbindung zur Natur und | |
zum Leben schlechthin vermitteln. Die Philosophie dahinter wird „Mono no | |
aware“ genannt, eine tiefe Ergriffenheit, die dem Flüchtigen innewohnt. | |
In einem weiteren Kapitel wird der 79-jährige Mangaka Tadao Tsuge | |
eindrücklich porträtiert, den Igort kennenlernte und der im Schatten seines | |
bekannteren älteren Bruders Yoshiharu steht. Zusammen mit dem Zeichner | |
Yoshihiro Tatsumi prägten die Brüder maßgeblich den Gekiga – | |
anspruchsvolle, düstere Mangas, die auf realistische Weise die | |
Nachkriegszeit widerspiegelten. Igort erfuhr, dass Tsuge eine traumatische, | |
von Gewalt und Armut geprägte Kindheit erlebt hatte, die er in seinen | |
Gekiga schonungslos abbildete. | |
Sein Anliegen war es, ganz normale Menschen und deren schweren Alltag | |
darzustellen. So kreierten die drei Künstler in den 60ern eine | |
anspruchsvolle Marke, das der heutigen Graphic Novel schon nahekam. Doch | |
Tsuge konnte nicht wie sein Bruder (dessen Werke „Rote Blüten“ und „Der | |
nutzlose Mann“ letztes Jahr erstmals auf Deutsch bei Reprodukt erschienen) | |
dauerhaft vom Zeichnen leben und schuf seine Mangas meist nebenbei. | |
Neben solch aufschlussreichen wie berührenden Begegnungen ist ein weiterer | |
Höhepunkt im Buch die Zusammenarbeit mit dem Komponisten [5][Ryūichi | |
Sakamoto] (bekannt durch Soundtracks wie „Furyo – Merry Christmas, Mr. | |
Lawrence“, „Der letzte Kaiser“), für den Igort 1986 einen futuristischen | |
Comic („Miraiha Yaro – Futurista“) zu einer Platte gestalten sollte. Diese | |
erstmals auf Deutsch abgedruckte Arbeit ist ein schönes Beispiel für den | |
anfangs exzentrisch-experimentellen Stil des Italieners (er datierte die | |
pseudofuturistische Arbeit unter seinem Signet mit 1927!). | |
Als Zeichner wie als Autor treibt Igort die Neugier an, immer tiefer zum | |
Kokoro, zur japanischen Seele vorzudringen. Als Leser lässt man sich gerne | |
darauf ein, denn man spürt seine tiefe Verbundenheit mit dem Land und | |
seinen Menschen. | |
Igorts erneuter Blick auf Japan ist eine nachdenkliche, geradezu meditative | |
Reise in die japanische Kultur, die ästhetisch überzeugt. Denn die mit | |
behutsamem Pinselstrich getupften, entrückt wirkenden Bilder scheinen wie | |
von japanischer Hand gezeichnet. | |
15 Mar 2021 | |
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## AUTOREN | |
Ralph Trommer | |
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