# taz.de -- Will Eisners Lebenswerk: Denkmal für Mietskasernen | |
> Alexander Braun würdigt den amerikanischen Graphic-Novel-Erfinder Will | |
> Eisner mit einer Ausstellung in Dortmund und einer kenntnisreichen | |
> Monografie. | |
Bild: Ausgaben des berühmten Comics „The Spirit“ von Will Eisner unter Gla… | |
Es ist Nacht in Central City, auch eine Werbetafel liegt im Dunkeln. Im | |
nächsten Panel erleuchten sie die Scheinwerfer eines vorbeifahrenden Busses | |
und ein Schriftzug wird sichtbar: „The Spirit“ steht da, „by Will Eisner�… | |
Allein die Art, wie der amerikanische Comiczeichner Will Eisner die | |
Schriftzüge für den Titel der Comic-Serie entwarf, die er ab 1940 für die | |
Sonntagsbeilagen verschiedener Blätter eines Zeitungsunternehmens erfand, | |
zeigt seine Könnerschaft, seine Innovationsbereitschaft in einem damals | |
eigentlich recht innovationsfeindlichen Umfeld. | |
Im Dortmunder Schauraum: Comic + Cartoon ist jetzt die erste deutsche | |
Retrospektive des Meisters zu sehen, der als Vater der Graphic Novel, also | |
des anspruchsvollen Comics in Romanlänge, gilt. | |
So wie man die Poesie in Eisners Frühwerk nicht auf den ersten Blick | |
erkennt, erschließt sich auch die Strahlkraft des Schauraums: Comic + | |
Cartoon nicht sofort: Er liegt etwas unscheinbar gegenüber dem Dortmunder | |
Hauptbahnhof im Gebäude der Stadt- und Landesbibliothek versteckt und | |
besteht tatsächlich nur aus einem zweigeteilten Raum. Doch er wird erfüllt | |
von Geist und Tatkraft des Kunsthistorikers und Künstlers Alexander Braun, | |
der selbst 2015 mit dem renommierten Eisner-Award ausgezeichnet wurde, ein | |
wichtiger amerikanischer Preis für Comic-Schaffende. Braun hatte damals | |
eine Gesamtausgabe von Winsor McCays „Little Nemo“ herausgebracht. | |
Auch Winsor McCay erfand für seine Serie „Little Nemo“ immer neue | |
Schriftzüge, aber Alexander Braun arbeitet in seinem zur Ausstellung | |
erscheinenden Buch [1][„Will Eisner – Graphic Novel Godfather“ (Avant | |
Verlag 2021, 384 Seiten, 39 Euro)] heraus, dass Eisner höchstwahrscheinlich | |
nichts davon wusste: „Dafür hätte er in die Bibliothek gehen und sich | |
jahrgangsweise die zu Folianten aufgebundenen Ausgaben des New York Herald | |
aus den 1910er Jahren vorlegen lassen müssen. Aber wie hätte er überhaupt | |
davon erfahren können, dass es sich gelohnt hätte, in diesen Zeitungen zu | |
blättern?“ | |
Mit der neuen Veröffentlichung hat sich Alexander Braun einmal mehr selbst | |
übertroffen: Der im wichtigen deutschen Comic-Verlag Avant erscheinende, | |
dicke Band ist Ausstellungskatalog und Monografie zugleich, vereint | |
biografische Fakten über Eisners Leben mit einer Werkschau und | |
wissenschaftlichen Erkenntnissen über die Entwicklung des Comics. In | |
Deutschland ist der Comic, zumindest was die Mehrheitsmeinung betrifft, nie | |
aus der Schmuddel- beziehungsweise Kinderecke gekommen. Seit die | |
Kulturteile regelmäßig Neuerscheinungen aus dem Graphic-Novel-Bereich | |
rezensieren, haben allerdings auch kleinere, inhabergeführte Buchhandlungen | |
angefangen, dem Genre ein paar Regalzentimeter freizuräumen. | |
## Das Leben der Arbeiter | |
Will Eisner ist deshalb hierzulande vor allem seit „Ein Vertrag mit Gott“ | |
von 1978 bekannt, eher ein Erzählungsband als ein Comic. Dessen vier | |
Geschichten spielen in den Tenements (also Mietskasernen), wie es sie in | |
der New Yorker Bronx oder in Brooklyn gegeben hat. In der Dortmunder | |
Ausstellung und im Katalog ist eine Doppelseite von Frank Leslie’s | |
Illustrated Newspaper vom Juni 1865 zu sehen, in der deutschsprachigen | |
Ausgabe für Einwanderer (auch Will Eisner war der Sohn von jüdischen | |
europäischen Einwanderern: Die Mutter kam aus Rumänien, der Vater war | |
Kunst- und Bühnenmaler aus Wien). Die Seite zeigt eine schematische | |
Darstellung der engen Mietskasernen und titelt: „Die Tenement-Häuser in New | |
York: Sitz des Lasters, der Seuche und der Trunkenheit“. | |
Genau dieses Umfeld ist es, das Eisner immer interessiert hat: das Leben | |
der Arbeiter und der unteren Mittelschicht. Für dessen Schilderungen und | |
die so realistische wie kunstvolle und perspektivisch immer wieder extrem | |
ungewöhnliche Darstellung ist er im kollektiven Gedächtnis verankert, nicht | |
für einen Superhelden wie Batman oder Superman. Doch die Graphic Novels, | |
die er ab dem „Vertrag mit Gott“ zeichnete (und mit denen er auch gegen | |
Antisemitismus anschreibt), gehören schon in das dritte Leben des Will | |
Eisner. Den ersten Anlauf musste auch er tatsächlich mit einem Superhelden | |
nehmen. Es ging nicht anders, wenn man als Comiczeichner Geld verdienen | |
wollte. | |
Eisner hatte ab Mitte der 1930er Jahre schon den Weg, den Comics in die | |
Beilagen der Zeitungen nahmen, revolutioniert, und ein eigenes Studio | |
gegründet, das die Strips druckvorlagenfähig erstellte, während die | |
Verleger sich ganz auf Druck, Vertrieb und Verkauf konzentrieren konnte. | |
1940 erfand er „The Spirit“ für die Sonntagsbeilagen eines großen | |
Zeitungsunternehmens. „Basierend auf seinem Faible für Pulp-Romane, Filme | |
und amerikanische Kurzgeschichten […], schwebten Eisner Crime-Episoden mit | |
einem Helden vor, der näher an Sherlock Holmes angelegt war als an Batman“, | |
schreibt Alexander Braun. | |
Dieser Detektiv mit Ecken und Kanten heißt „The Spirit“ und Brauns Mission | |
ist es auch, diesen den deutschen Will-Eisner-Fans näherzubringen. Eine | |
ganze Hälfte der Ausstellung und fast die Hälfte der Monografie nehmen die | |
Abenteuer des (Anti-)Helden ein, teils komplett nachzulesen. Mit einer | |
Augenmaske ist der Spirit nur notdürftig in die Reihe der Superhelden | |
gerückt und in manchen Comics, die als Originalzeichnungen in der | |
Ausstellung hängen, ist er nur in einem Bild zu sehen: Die Hauptgeschichte | |
gehört dann Waisen oder Boxern oder einem gewöhnlichen Jungen, der eines | |
Tages entdeckt, dass er fliegen kann. | |
Auch das zweite Leben des Will Eisner spart die Schau nicht aus: Vor seiner | |
Wiederentdeckung als großer Erzähler durch den jungen Verleger Denis | |
Kitchen hat er 20 Jahre lang zwar sehr kreativ, aber doch bloß | |
Gebrauchsanweisungen für Armeesoldaten geschrieben, wie sie ihre Waffen | |
richtig benutzen. | |
Und ganz unscheinbar in einer Glasvitrine liegt ein abgegriffenes | |
Taschenbuch, das zeigt, was selbst ein Comiczeichner von Rang nebenher | |
machen musste, wenn er großes Geld verdienen wollte (oder seiner Mutter | |
gefallen, die ein Leben von der Kunst nie für richtig hielt): Will Eisner | |
schrieb den „World Bartender Guide“ ohne irgendwo seinen Autorennamen zu | |
nennen – und er wurde zum Standardwerk für alle amerikanischen Drink-Mixer. | |
13 Apr 2021 | |
## LINKS | |
[1] https://www.avant-verlag.de/comics/will-eisner/ | |
## AUTOREN | |
Max Florian Kühlem | |
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