# taz.de -- Faschismus und Exil im Comic: Reise ohne Rückkehr | |
> Andrea Serios Graphic Novel „Rhapsodie in Blau“ erzählt vom | |
> Antisemitismus in Italien und Exil in den USA. Die Bilder pendeln über | |
> das tiefblaue Meer. | |
Bild: Andrea Serio, „Rhapsodie in Blau“. Der Duce redet, Andrea Goldstein v… | |
Es ist ein herrlicher Sommertag des Jahres 1938 in einem kleinen Badeort an | |
der norditalienischen Küste. Andrea Goldstein, seine Cousine Cati und sein | |
Cousin Martino sehen entspannt dem Ende der Ferien und dem Schulbeginn mit | |
anstehenden Prüfungen entgegen. Da vernehmen die drei fast erwachsenen | |
Jugendlichen plötzlich eine Radionachricht: Juden sollen ab sofort keine | |
staatlichen Schulen mehr besuchen dürfen. Für die drei jüdischen Italiener | |
ändert sich fortan alles. | |
Der 1973 in Carrara geborene Illustrator und Comiczeichner Andrea Serio | |
legt (nach dem nicht übersetzten Erstling „Nausicaa“ von 2018) mit | |
„Rhapsodie in Blau“ seine zweite Graphic Novel vor, die bei Schreiber & | |
Leser auch auf Deutsch erschienen ist. Sie basiert auf Silvia Cuttins 2011 | |
veröffentlichtem Roman „Ci sarebbe bastato“ („Es wäre genug gewesen“, | |
Editione Epika, liegt bisher nicht auf Deutsch vor). Er erzählt die wahre | |
Geschichte zweier jüdischer Familien in Italien, die um 1900 beginnt und | |
bis in die Nachkriegszeit reicht. | |
Andrea Serio adaptiert nicht Cuttins ganzen episch angelegten Roman. Er | |
konzentriert sich auf den erzählerischen Kern zwischen der (Spät-) Zeit des | |
italienischen Faschismus und dem Kriegsende. [1][Die italienischen | |
Rassegesetze von 1938 bilden den Hintergrund des Buches] – das Thema wurde | |
auch in Giorgio Bassanis berühmtem autobiografischen Roman „Die Gärten der | |
Finzi-Contini“ von 1962 behandelt. | |
Im Gegensatz zur deutschen jüdischen Bevölkerung, die bereits früh von | |
diskriminierenden behördlichen Maßnahmen betroffen war, wurden italienische | |
Juden vor 1938 nicht systematisch ausgegrenzt. Sie blieben vielerorts als | |
Teil des Bürgertums anerkannt, waren oft selbst Patrioten und einige | |
sympathisierten gar mit der faschistischen Bewegung. | |
## Als sich das Licht verdunkelt | |
Die Auswirkungen der neuen Politik Mussolinis – eine Kehrtwende von seiner | |
bisherigen Haltung zum jüdischen Teil der Bevölkerung – macht eine starke | |
Szene der Graphic Novel anschaulich: Eine anonyme Masse von ZuhörerInnen | |
versammelt sich auf einem Platz in Triest. Immerzu „Duce“ rufend, hört sie | |
die Rede Mussolinis, der die neuen Gesetze verteidigt, „zum Schutz der | |
Rasse“. Der „Duce“ selbst ist in der gezeichneten Szene nicht zu sehen. | |
Aus der Masse schält sich aber eine Person heraus, Andrea Goldstein. Er | |
wendet sich ab und geht leicht geduckt durch die von der Sonne erhellten | |
Straßen, während die Worte des Duce weiter über den Bildern zu lesen sind. | |
In subtiler Symbolik deutet der Zeichner an, wie sich das durch die Blätter | |
der Bäume flirrende Licht verdunkelt. Und Andrea schließlich im Schatten | |
einer Allee verschwindet. | |
Dessen Eltern sehen für ihre Kinder keine andere Alternative als Migration | |
und Exil. Erst ein Jahr später, im September 1939, gelingt es ihnen, ihren | |
Sohn zusammen mit seiner Schwester Magda nach Nordamerika einzuschiffen. | |
Dort können sie in New York bei ihrer Tante wohnen. Während der | |
Ozeandampfer den Hafen verlässt, sinniert Andrea über seine | |
zurückbleibenden Eltern und die ihm so vertrauten Orte. | |
Die Zeitebenen der Graphic Novel wechseln immer wieder: Wie in sanften | |
Wellenbewegungen des tiefblau gezeichneten, mehrere Seiten ausfüllenden | |
Meeres springen sie zwischen 1938/39, der sich anschließenden glücklichen | |
Zeit in New York, wo Andrea in einem Krankenhaus arbeitet, und 1944 hin und | |
her. | |
## Soldat der Alliierten | |
Denn in diesem Jahr fährt er in umgekehrter Richtung wieder nach Europa | |
zurück. Auf einem Truppentransporter, als freiwilliger Soldat der | |
Alliierten und ausgebildeter Gebirgsjäger. Nebenbei wird in einer Szene | |
unter den US-Soldaten auch der Rassismus in den USA thematisiert. In einem | |
sehr lebensnah erscheinenden Dialog, in dem der schwarze Soldat Morris von | |
seinen Alltagsdiskriminierungen berichtet. | |
In seiner früheren Heimat Italien kämpft Andrea schließlich an der Front. | |
Serio vermittelt die Themen Antisemitismus, Faschismus und Krieg eher | |
beiläufig, doch trotzdem eindringlich. Serio denkt seine Geschichte von den | |
Bildern her. So erschafft er in wohldurchdachten Seitenlayouts | |
stimmungsvolle Kompositionen aus Architektur, Landschaften und Licht. Die | |
Schönheit der Bilder steht im krassen Kontrast zu den gerade stattfindenden | |
Umwälzungen und Kriegshandlungen in Europa. | |
Auch für die Episoden in New York überwiegt diese Darstellungsweise: Die | |
Straßen und Cafés der Metropole wirken trügerisch harmonisch, aufgeräumt | |
wie in Gemälden von Edward Hopper. Auch auf der Eisbahn im Central Park | |
geht es idyllisch zu. Serios eleganter Zeichenstil erinnert – er verwendet | |
Buntstifte und Pastellkreide – an den seines berühmten Landsmanns Lorenzo | |
Mattotti. Doch stellt Serio diese malerischen Qualitäten vollkommen in den | |
Dienst seiner realistischen Erzählung. Statt der Expressivität Mattottis | |
verfolgt er ästhetisch einen impressionistischen Ansatz. | |
Das Erstaunliche: 1944 in New York entscheidet sich Andrea (er wird nun | |
Andrew genannt), trotz seinem sicheren Leben, einem geplanten Studium und | |
seiner zarten Bande zur hübschen Joan für den Kampf gegen den Faschismus. | |
Es sollte eine Reise ohne Rückkehr werden, denn er wird wenige Wochen vor | |
Kriegsende fallen. | |
Das Schicksal seines Cousins Martino wäre nicht weniger interessant für den | |
Comic gewesen. Dieser wurde, wie man im Epilog knapp erfährt, während der | |
deutschen Besatzungszeit aus Italien 1944 deportiert. Als einer von wenigen | |
italienischen Juden überlebte er Auschwitz. Die Entscheidung des Zeichners, | |
sich auf die eine Hauptfigur der Vorlage zu konzentrieren, ist jedoch | |
nachvollziehbar, auch aufgrund der erzählerischen Dichte. | |
## Blau durchzieht das ganze Buch | |
George Gershwins Komposition „Rhapsody in Blue“ von 1924, erinnert den | |
Soldaten Andrea/Andrew in der Erzählung an New York, seine neue Heimat, wie | |
er im Brief an seine Cousine schreibt. Das Blau durchzieht auch das ganze | |
Buch, als Farbe des Meeres und als Seelenzustand, der Melancholie des | |
Protagonisten entsprechend. | |
Durch Andrea Serios sinnliche, musikalische Erzählweise kommen wir der | |
Gefühlswelt des jungen Helden sehr nahe und können mitempfinden, welche | |
Erschütterungen damals die Welt durchzogen. Und welche Zerrissenheit viele | |
Schicksale gerade Menschen mit jüdischem Hintergrund prägten und prägen. | |
Diese vielschichtige Graphic Novel über die wenig bekannte (und in Italien | |
schlecht aufgearbeitete) italienisch-jüdische Geschichte macht gerade durch | |
ihre offene, die Geschehnisse nur andeutende Struktur neugierig. Sie ist in | |
der Lage, viele LeserInnen anzuregen, vielleicht mehr über dieses traurige | |
Kapitel des Landes erfahren zu wollen. | |
15 Feb 2021 | |
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[1] /Verklaerung-des-Faschismus-in-Italien/!5175748 | |
## AUTOREN | |
Ralph Trommer | |
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