# taz.de -- Graphic Novel von Lara Swiontek: Junge Hedonistin, frühe Feministin | |
> Das überraschende Debüt der Lübecker Zeichnerin variiert das historische | |
> Werk der lange Zeit verkannten Frankenstein-Autorin Mary Shelley | |
Bild: Das süße Leben eines Dandy vor seiner Verwandlung | |
Der hübsche Guido Carega lässt sich’s gut gehen. Als Spross eines Genueser | |
Millionärs genießt er nach dessen Tod erst so richtig die Dolce Vita. | |
Reisen, Partys – im Vergnügungsmekka Paris trifft er Gleichgesinnte. | |
Nachdem er sein Erbe verprasst hat, zieht es ihn zurück nach Genua, zu | |
seiner Jugendliebe Juliet, Tochter des reichen Alfredo Torella. | |
Doch dieser macht es Guido nicht ganz so leicht, an das Geld seiner Tochter | |
zu kommen. Er vertreibt ihn aus der italienischen Hafenstadt. Am Meer aber | |
begegnet dem verzweifelten Guido ein Zwerg. Der bietet ihm einen Goldschatz | |
an, so er mit ihm für drei Tage den Körper tauschen würde. Ein Angebot, das | |
Guido nicht ablehnen kann. | |
Die Lübecker Zeichnerin Lara Swiontek hat erst 2021 ihr Studium des | |
Kommunikationsdesigns an der Hochschule Wismar abgeschlossen. Als | |
Diplomarbeit wollte die 1988 geborene Künstlerin eine Graphic Novel nach | |
einer Literaturvorlage zeichnen. Und wählte dafür eine fast 200 Jahre alte | |
englische Erzählung aus: „Die Verwandlung“, 1831 von Mary Shelley verfasst. | |
Shelley (1797–1851) wurde durch ihren Roman „Frankenstein oder Der moderne | |
Prometheus“ berühmt. Ein Werk, das sie mit knapp 20 Jahren schrieb und 1818 | |
zunächst anonym veröffentlichte. Heute gilt es als einer der wichtigsten | |
Romane der englischen Romantik und der fantastischen Literatur im | |
Allgemeinen. Das oft vordergründig dem Schauerroman zugeordnete Werk lässt | |
vielschichtige Interpretationen in alle Richtungen zu, die ethische und | |
philosophische Fragen in den Mittelpunkt stellen, etwa die Verantwortung | |
von Wissenschaft ansprechen. | |
Auf Deutsch kann der Roman heute dank der gelungenen Übersetzung von | |
Alexander Pechmann in der Urfassung der ursprünglich anonymen Erstausgabe | |
gelesen werden. Zahlreiche strittige, später getilgte Anspielungen an die | |
englische Gegenwart sind darin enthalten. | |
Zu Unrecht wird Shelleys Werk meist auf „Frankenstein“ reduziert. Zunehmend | |
werden auch andere Prosaarbeiten dieser vielseitigen Autorin entdeckt. Als | |
Tochter des Sozialphilosophen William Godwin und der Frauenrechtlerin Mary | |
Wollstonecraft, Ehefrau des berühmten Dichters Percy Bysshe Shelley und | |
Teil eines intellektuellen Künstlerkreises um den Dichterfürsten Lord Byron | |
war sie früh eine eigenständige Autorin, die in ihren Texten die britische | |
Gesellschaft kritisch reflektierte. | |
2021 erschien eine neue, erstmals ungekürzte Übersetzung von Irina Philippi | |
ihres nahezu unbekannten [1][dystopischen Romans „Der letzte Mensch“. 1826 | |
erstveröffentlicht,] handelt dieser von einer Apokalypse im späten 21. | |
Jahrhundert (!), in der die Menschheit durch eine globale Pestepidemie | |
auszusterben droht. Kriege, soziale und politische Verwerfungen sowie | |
Flüchtlingsströme (aus den Kolonien Amerika und Irland) tragen zum | |
Niedergang bei. | |
Am Ende überlebt als Einziger aus einer Gruppe von Freunden, die auch an | |
Shelleys persönliches Umfeld erinnert, der Held und Erzähler Verney. „Der | |
lezte Mensch“ ist ein kluges Gedankenexperiment, das politische und | |
gesellschaftliche Tendenzen des damals imperialistischen Großbritanniens | |
und Europas weiterdenkt. Aus heutiger Sicht unterstreicht das Buch die | |
Bedeutung der Autorin Mary Shelley, die zu Lebzeiten vom englischen | |
Literaturbetrieb eher geringgeschätzt wurde. Lange hielt sich die | |
Vermutung, dass nur ihr Ehemann Percy Shelley der Autor von „Frankenstein“ | |
sein konnte. | |
Mary Shelley schrieb neben Gedichten, Reiseberichten und Theaterstücken | |
auch viele Erzählungen, die meist besser bezahlt wurden, für die Autorin | |
aber weniger wichtig waren als ihre Romane. „Die Verwandlung“ gehört zu | |
diesen kürzeren Auftragswerken und kann als typische „Gothic Tale“ gewertet | |
werden. Eine mit fantastischen Elementen versehene romantische Erzählung | |
von hohem Unterhaltungswert, wie sie zu Shelleys Lebzeiten beliebt war. | |
Die Autorin spielt dabei gekonnt mit dem Genre. Sie lässt die diabolische | |
Figur des abstoßend hässlichen Zwerges mit magischen Fähigkeiten | |
auftauchen, der wiederum der negativen Entwicklungsgeschichte um einen | |
verkorksten reichen Erben eine wundersame Wendung geben wird. Shelley | |
inszeniert einen verhängnisvollen faustischen Pakt, eine Art letzte | |
Prüfung, die dem selbstsüchtigen Helden die endgültige Verdammnis – oder | |
die rettende Läuterung – bringen kann. | |
Zeichnerin Lara Swiontek lässt sich von dieser routiniert vorgetragenen | |
Erzählung mit sichtbarem Spaß zu einer zeitgemäßen, mit ironischem Unterton | |
versehenen Version inspirieren. Ihre grafische Adaption beweist [2][eine | |
charmante erzählerische Leichtigkeit], die Swiontek stilsicher vorwiegend | |
mit Bleistift und dünnem Tuschestrich ins Bild übersetzt. Die Kapriolen | |
ihres egozentrischen wie selbstverliebten Helden malt sie süffisant aus, | |
die Partyszenen erscheinen als trubelige Wimmelbilder. | |
Die ursprünglich in der Renaissancezeit angesiedelte Handlung wird ohne | |
Probleme in ein zeitloses Ambiente versetzt, die Versatzstücke | |
verschiedener Epochen wie der „Roaring Twenties“, der „Swinging Sixties“ | |
und heutiger Partykultur enthält. | |
Die Auflösung in Seitenarchitekturen und einzelne Panels sind | |
abwechslungsreich, die Hintergründe stimmungsvoll. Monochrom gehaltene | |
Farbflächen sind den Bildfolgen unterlegt, die vom anfangs trügerisch | |
harmonischen Altrosa fast unmerklich in ein düsteres Grau-Blau übergehen. | |
Lara Swiontek hat ein gelungenes Debüt vorgelegt, das die historische | |
Romanvorlage auf erfrischende Weise ins hedonistische Instagram-Zeitalter | |
holt. Und regt vielleicht dazu an, abseits von „Frankenstein“ weitere Werke | |
einer unterschätzten Autorin von Weltrang zu entdecken. | |
10 May 2022 | |
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## AUTOREN | |
Ralph Trommer | |
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