| # taz.de -- „Frankenstein“ am Schauspiel Hannover: Das gemachte Monster | |
| > Clara Weydes freie Bearbeitung von Mary Shelleys „Frankenstein“ | |
| > verlängert den Stoff ins Heute. Herausgekommen ist ein Funken sprühender | |
| > Abend. | |
| Bild: Sind wir nicht alle ein bisschen Monster? Die Kreatur (Nils Rovira-Muño)… | |
| Es wundere ihn nicht, dass es zurzeit so viele | |
| „Frankenstein“-Inszenierungen gebe, so Ulrich Khuon dieser Tage zur | |
| Süddeutschen Zeitung. Nun hat das Deutsche Theater Berlin im späten | |
| September selbst so eine Adaption [1][zur Premiere gebracht], da könnte es | |
| sich um clevere PR handeln – Khuon ist Intendant jenes Theaters. | |
| Gleichwohl: Ein „[2][Symbol für den Menschen, der über sich hinauswachsen | |
| will“], erkennt er in dem etwas über 200 Jahre alten Grusel-Stoff, was | |
| freilich schon der originale Untertitel von Mary Shelleys Roman | |
| vorweggenommen hatte: „der moderne Prometheus“. | |
| Aber klar: Sie passt doch so gut in unsere Zeit, diese Geschichte vom | |
| Wissenschaftler, der es Gott gleich tun will, nämlich Leben erschaffen. Das | |
| Ergebnis ist eine Kreatur, jenes Monster, das nach zahllosen Adaptionen, | |
| vor allem aber den Filmen mit Boris Karloff, seinen menschlichen Schöpfer | |
| ikonografisch längst in den Schatten stellt; das aber gar nicht von | |
| vornherein böse oder mordlüstern ist, sondern dorthin erst getrieben wird | |
| durch die ach so viel bess’ren Menschen. | |
| „Man wird nicht als Monster geboren“: Diesen Akzent betont der | |
| „Frankenstein“, der jetzt in Hannover auf die Bühne kam. „Frankenstein o… | |
| Eine Frischzellenkur“ haben die Autorinnen Clara Weyde und Barbara Kantel | |
| das Stück überschrieben, „Frei nach Mary Shelley“; apropos: Auch als | |
| Überschreibung „des Frankenstein-Mythos“ bezeichnen die Verantwortlichen | |
| diese Fassung, was ja eine ganz anderer Kategorie ist, einen ganz anderen | |
| Anspruch formuliert als einfach nur einen hellsichtigen Roman, ja: die | |
| Mutter der Science-Fiction für die Bühne aufbereitet zu haben. | |
| Eine Frischzellenkur ist der knapp anderthalbstündige Abend insofern, als | |
| er den einst so zukunftsweisenden Stoff ins Heute verlängert – von einem | |
| „Kaleidoskop gegenwärtiger Debatten“ ist im Programm die Rede, und in den | |
| Text sind allerlei jüngere bis junge Autor_innen gesampelt: Stephen Hawking | |
| und Donna Haraway etwa, Yuval Noah Harari und Karl Kardinal Lehmann. | |
| Das ist vielleicht der Kern der anhaltenden Faszination am | |
| Frankenstein-Stoff: Dass er sich immer wieder hat heranziehen lassen als | |
| Erklärung, Kommentierung, auch zum Protest gegen jeweils sehr reale | |
| Entwicklungsschübe von Wissenschaft und Technik. Hat nicht der Mensch mit | |
| der Atomenergie ein Monster erschaffen, das er nicht kontrollieren kann? | |
| Und das genmanipulierte Getreide? Was ist mit dieser künstlichen | |
| Intelligenz? | |
| Prominent Eingang gefunden hat bei Weyde – die auch Regie führt – und | |
| Kantel der Klimawandel, auch so ein über unsere Köpfe Gewachsenes. Womit | |
| sich ein Kreis schließt zur Entstehungsgeschichte des Frankenstein im | |
| [3][„Jahr ohne Sommer“] 1816, dessen apokalyptischer Grundton Mary Shelleys | |
| Schreiben beeinflusst haben soll. Wie ein weit entfernt, im heutigen | |
| Indonesien, ausbrechender Vulkan in der westlichen Welt Ernten verhagelt | |
| und Menschen in Hunger stürzte: Das ist aber auch zu lesen als die Art von | |
| Erlebnis mit der Natur, mit einem unbarmherzigen Gott, gegen die ein | |
| entsprechend brennender Wissenschaftler sich dann auflehnen könnte, wie es, | |
| eben, dieser beinahe sprichwörtlich geworden anmaßende Viktor Frankenstein | |
| tut. | |
| Vom Pathos der Vorlage entfernt sich das Geschehen nun in Hannover ganz | |
| schön weit: Fünf „Maryzellen“– Frischzellenkur, ne? – treten auf, and… | |
| weiß geschminkte Gesichter, weinrote Gewänder mit den Initialen „M.S.“ auf | |
| der Brust: Nina Sarita Balthasar, Stella Hilb, Torben Kessler, Nils | |
| Rovira-Muñoz und Katherina Sattler. Sie tauschen sich aus über die Frau im | |
| antiken Mythos – „Rache für Prometheus!“ – rangeln um Pandoras Fass, ja | |
| auch so eine Ausprägung der Idee von des Menschen mäßigem Talent, die | |
| Folgen irgendwelchen Tuns abzuschätzen. | |
| Die insbesondere aus den Verfilmungen bekannten Elemente kommen vor, auch | |
| wenn hier keine Gewitternacht ins Szene gesetzt wird und kein nächtlicher | |
| Leichendiebstahl: Creepy Arme und Beine werden auf der Bühne angeordnet, | |
| später auch -gehäuft. Für den Strom, dessen kontrollierter Einsatz bei | |
| Erscheinen des Romans ja noch ganz frische Technik war, stehen nun – | |
| Toaster. Ziemlich wenig dramatisch kommt da das Leben in die toten Teile, | |
| wie überhaupt der Grusel, das ganze Generationen Entsetzende gern | |
| zurücktritt hinter teils enorm komisches Spiel, beinahe Slapstick; das | |
| Programm verweist auf den Grotesktanz Valeska Gerts, die gut 100 Jahre | |
| später debütierte, als Shelleys Roman erschien. | |
| Ist die aktualisierende Überschreibung, die Frischzellenkur gelungen? | |
| Nicht, wenn man stringente Belehrung erwartet, aber es ist der Ballhof ja | |
| auch kein paramedizinischer Hörsaal. Sehr wohl aber im Sinne eines | |
| vielleicht nicht durchweg, aber immer wieder allerbeste Funken sprühen | |
| machenden Abends, der durchaus seine losen Enden hat. Alles andere wäre | |
| aber auch – und sei es ganz doll fortschrittsskeptischer – Kitsch. | |
| 18 Oct 2021 | |
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| [1] /Frankenstein-am-Deutschen-Theater/!5800290 | |
| [2] https://www.sueddeutsche.de/kultur/theater-corona-hygienekonzepte-1.5438708 | |
| [3] https://de.wikipedia.org/wiki/Jahr_ohne_Sommer | |
| ## AUTOREN | |
| Alexander Diehl | |
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