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# taz.de -- Ausstellung zu Frankensteins Monster: Unheimliche Produktivkräfte
> Ein Albtraum nach einem dunklen Sommertag: Vor 200 Jahren wurde die Idee
> zum Roman „Frankenstein oder Der moderne Prometheus“ geboren.
Bild: Schreckliche Erfindung: Frankensteins Monster machte auch im Kino Karriere
Im Sommer 1816 schneit es in der Schweiz. Noch im August liegt Schnee in
den Ausläufern des Jura, und die Kartoffeln sind auf die Größe von
Walnüssen geschrumpft. Die Landbevölkerung in Süd- und Mitteleuropa leidet
unter einer extremen Hungersnot, und die Sterblichkeitsrate steigt rapide.
Europa im Jahr eins nach dem Wiener Kongress soll sich als „Jahr ohne
Sommer“ in die Annalen der frisch restaurierten Königreiche und Herzogtümer
einschreiben, und in der Schweiz herrscht ein klimatischer Ausnahmezustand,
der alle langfristigen Zyklen und mittelfristigen Entscheidungsprozesse zu
durchkreuzen scheint. Der Rhein und die Rhône treten mitten im Sommer über
die Ufer, ganze Regionen stehen unter Wasser, und nur die Apokalytiker
feiern mit frisch aufgelegten Manifesten fröhliche Konjunktur.
Was wie die Ankündigung eines nahen Weltuntergangs über Europa kam, war das
Resultat einer lokalen geologischen Katastrophe am anderen Ende der Welt,
die im Verlauf eines Jahres ihre globalen klimatischen Auswirkungen zeigen
sollte: der Ausbruch des Tambora vor Java im April 1815. Die weitaus größte
Eruption der Erde seit über 20.000 Jahren kostete zigtausende Menschen in
Indonesien das Leben und färbte noch ein Jahr später den Schnee über Genf
aschbraun.
Auch den kleinen, renommierten Zirkel englischer Intellektueller um Lord
Byron, der sich in diesen verregneten Sommermonaten 1816 am linken Ufer des
Genfer Sees niederließ, lässt das Katastrophenjahr nicht kalt. Byrons
Totengesang „Darkness“ wird zum traurigen Popsong des Sommers: „I had a
dream, which was not all a dream. The bright sun was extinguish’d, and the
stars did wander darkling in the eternal space.“
## Hungersnöte in der Nebenrolle
In der Genfer Villa Diodati, in der man sich regelmäßig trifft, spielen die
Hungersnöte rundherum trotzdem eine Nebenrolle. Es waren philosophische und
politische Diskussionen sowie ein eher komplexes Liebesleben, das die
angelsächsischen Romantiker um ihren Großmeister Byron und seinen Leibarzt
John Polidori umtrieb. Im Besonderen die Neuankömmlinge Percy Shelley und
die 19-jährige Mary Godwin – die künftige Mary Shelley – freuten sich üb…
ihre neuen Freiheiten und offenen Diskussionen im liberalen Stadtstaat
Genf.
Anders als nach dem Erdbeben von Lissabon – 60 Jahre zuvor – aber ist in
diesen Gesprächen hier nun keine Rede mehr von der „besten aller möglichen
Welten“ und von ihren Katastrophen. Während sich die Denker der
französischen Aufklärung Voltaire und Rousseau noch an den großen
religionsphilosophischen Fragen von Schöpfung und göttlicher Vorbestimmung
rieben, wird im Genf des frühen 19. Jahrhunderts lieber darüber
nachgedacht, wie man die Schöpfung endlich selbst in die Hände nehmen kann.
Zwischen der europäischen Naturkatastrophe von 1755 und der globalen
Klimakatastrophe von 1815 vollzieht sich nicht zuletzt innerhalb der
literarischen Intelligenzija jener Mentalitätswandel, der Europa quasi ins
neue geologische Zeitalter des Anthropozän katapultiert. Ein drittes Mal
zumindest will man sich von den tellurischen Kräften nun nicht mehr das
Heft des Handelns aus den Händen nehmen lassen. Der erste Held dieses neuen
gesellschaftlichen Imaginären aber wird eine traurige, sensible Kreatur aus
der Retorte sein, die von der Gesellschaft ausgestoßen zum Monster wird –
wohl nicht zufällig das genaue Gegenbild zum „Émile“ Jean-Jacques
Rousseaus.
Von all dem erzählt eine ziemlich [1][erlesene Ausstellung in der Genfer
Martin-Bodmer-Stiftung]: der Bibliotheca Bodmeriana – nur wenige hundert
Meter entfernt vom einstigen Treffpunkt der englischen Romantiker in der
Villa Diodati: „Frankenstein, créé des ténèbres“, Frankenstein, Geschö…
der Dunkelheit. Ein Thema mit thrill und lokalem Kolorit; Dr. Viktor
Frankenstein ist wie auch Rousseau ein stolzer Bürger, geboren als Sohn
einer vornehmen Familie der Stadt Genf.
Doch wie in der Schweiz üblich, kommt die Ausstellung eher unaufgeregt
daher. Die Erzählungen von Naturkatastrophe, Zeitenwandel und säkulare
Menschenproduktion sind in den unterirdischen Katakomben des nüchternen
Mario-Botta-Baus über dem Lac Léman in den Kontext der Ewigkeit gestellt.
Bodmers Privatsammlung mit ihren über 150.000 Schriften hat sich der
Bewahrung der Weltliteratur verschrieben und hat als Privatsammlung seit
einem Jahr den Status eines Unesco-Weltdokumenten-Erbes inne. Man befindet
sich hier also vergleichsweise eher im Literaturarchiv Marbach als am
schrillen Medienstandort Karlsruhe.
## Mythen des 20. Jahrhunderts
So sind es denn vor allem Autografen und Erstausgaben, Gemälde und
Zeichnungen, die zwischen Gutenberg-Bibeln, einer Ilias-Handschrift aus dem
8. Jahrhundert v. Chr. und Kafka-Covern ausgestellt sind, um der Erfindung
einer der wichtigsten Mythen des 20. Jahrhunderts zu huldigen: dem Roman
von Doktor Viktor Frankenstein und seiner monströsen Kreatur, der hier in
Genf in der Nacht vom 16. auf den 17. Juni 1816 als Idee seinen Anfang
nahm.
Nach Mary Shelleys späteren Erinnerungen in ihrem Vorwort zu „Frankenstein
oder Der moderne Prometheus“ war die „unglückselige Gespenstergeschichte“
um Dr. Frankenstein und seines Homunkulus eher dem Zufall geschuldet:
entsprungen der spontanen Laune Byrons und einem kleinen literarischen
Wettbewerb um die beste Gruselstory des Abends unter den Freunden in der
Villa Diodati. „Oft und lange diskutierten Lord Byron und Shelley, während
ich als bescheidene, aber aufmerksame Zuhörerin dabeisaß. Eine der
philosophischen Hauptfragen, die diskutiert wurden, war die nach dem
Ursprung des Lebens. Vielleicht wäre es denkbar, einen Leichnam wieder zu
beleben, was ja auf galvanischem Wege bereits geschehen ist, oder die
Bestandteile eines Lebewesens zusammenzufügen und ihm lebendigen Odem
einzuhauchen?“
Die wilden Albträume einer jungen Frau in der darauf folgenden Nacht tun
das Ihre hinzu. So vermischen sich zu Beginn des 19. Jahrhunderts letzte
Diskursreste von weiblicher Passivität mit einer neuen literarischen
Fabulationskraft und den spekulativen Experimenten einer Jahrhundertwende,
die ihren Glauben an übernatürliche Kräfte ad acta gelegt hat. Wenn Shelley
ihren Dr. Frankenstein und seinen Dämon quer durch Europa jagt, dann ähnelt
diese wilde Reise nicht nur ihrer eigenen touristischen Umtriebigkeit,
sondern erinnert zugleich an die theatralen Europatourneen des
Galvani-Neffen Giovanni Aldini, der vor staunendem Publikum abgehauene
Büffelschädel und guillotinierte Delinquentenkörper in Zuckungen versetzt.
## Nachahmungen, Verschiebungen und Verdichtungen
Lauter Körperwelten – vermengt mit einem neuzeitlichen Animismus, der totem
Material und einem in Nationen zerfallenden Europa ein letztes Mal Leben
einhaucht. Im neuen Leitmedium der Massenliteratur entfalten bioelektrische
Phantastereien und magnetistische Spekulationen eine Produktivkraft, die
mit ihren unzähligen Nachahmungen, Verschiebungen und Verdichtungen der
menschengemachten Kreatur bis heute unsere Welt bevölkert.
Während die Großdichter Byron und Percy Shelley an der selbstgestellten
Aufgabe einer „Gespenstergeschichte nach deutschem Vorbild“ kläglich
scheitern, schafft Mary Shelley aus ihren Albträumen literarische Realität.
In der Nacht vom 16. auf den 17. Juni 1816 – vor 200 Jahren – nehmen nicht
nur Mary Shelleys Homunkulus „Frankenstein“, sondern mit John Polidoris
„Vampyre“ gleich noch eine zweite emblematische Figur des neuen Zeitalters
Gestalt an. Noch 20 Jahre später erinnert sich Mary Shelley an diese
Ursprungsakte eines neuen literarischen Zeitalters: „Die Idee hatte mich
derart gefangen genommen, dass es mich eiskalt überlief und ich vergebens
mich bemühte, das gespenstische Bild meiner Phantasie wieder mit der
Wirklichkeit einzutauschen. Ich wusste, dass draußen spiegelglatt der See
lag und die Alpen ihre Häupter starr zum Himmel erhoben; aber trotzdem
konnte ich meines Phantasiegebildes nicht ledig werden. Wie ein Licht
flammte es in mir auf. Was mich erschreckte, sollte auch andere
erschrecken. Ich habe nur den unheimlichen Halbtraum jener Nacht zu
beschreiben.“
Mary Shelley sollte recht behalten. Während Galvanismus und Mesmerismus als
wissenschaftliche Modeerscheinungen bald in Vergessenheit geraten,
übersteht ihre literarische Verarbeitung über dem Genfer See noch den
Medienwechsel von der Literatur zur neuen Leitkultur des Films zu Beginn
des 20. Jahrhunderts. Dem Animismus der laufenden Bilder liefern die
Frankensteins, Draculas und Aliens dieser Tage ihren epischen und
visionären Grundstoff.
30 Jun 2016
## LINKS
[1] http://fondationbodmer.ch/expositions-temporaires/frankenstein/
## AUTOREN
Fritz von Klinggräff
## TAGS
Romantik
Literatur
Schwerpunkt Femizide
Theater
Schwerpunkt Gender und Sexualitäten
Ernährung
Indonesien
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