# taz.de -- Oper „Der Vampyr“ in Hannover: Geschichte einer Entmenschlichung | |
> Ersan Mondtag verpasst Heinrich Marschners „Der Vampyr“ in Hannover eine | |
> Lokalkolorit-Infusion. Dank der spukt er gruselig über die | |
> Staatsopernbühne. | |
Bild: Der Schmelz von Michael Kupfer-Radeckys Bariton (Mitte) bringt Astarte (O… | |
Und losbricht ein echter Höllentanz: Das erste Bild der Oper „Der Vampyr“ | |
gehört gleich dem großen Geisterchor. Hier ergeht der teuflische Auftrag an | |
den untoten Lord Ruthwen, bis Mitternacht dreier [1][Frauen Blut zu | |
trinken], um ein weiteres Jahr auf Erden wandeln zu dürfen. | |
Die Exposition ist musikalisch von großartiger Schaurigkeit. Wilde | |
Chromatik bringt die Harmonien ins Rutschen, Synkopen verunsichern den | |
Takt, in den Ohren schmerzen schrille Piccolo-Läufe. Tolle Musik ist das, | |
vielleicht die beste, die Heinrich Marschner je geschrieben hat. So | |
mitreißend befiehlt’s: „Ihr Hexen und Geister schlingt fröhlich den Reihn… | |
Der von Lorenzo da Rio glänzend eingestellte hannoversche Staatsopernchor | |
schleudert diese Aufforderung zum Tanz so direkt ins Publikum, dass es sich | |
nur gemeint fühlen kann. Josa Marx hat die Sänger*innen in | |
Monsterkostüme gesteckt, deren Ästhetik genau die Mitte zwischen [2][Muppet | |
Show] und Höllen-Breughel trifft. | |
So toben sie über ein Trümmerfeld vor der von Sascha Zauner gespenstisch | |
ausgeleuchteten Nachbildung von Hannovers Neuer Synagoge, wie sie, | |
zerstört, verbrannt, am 10. November 1938 ausgesehen haben muss; [3][nur | |
dass die Maßwerkfüllung ihrer Rosette im Original keinen Davidstern | |
gebildet hatte.] | |
## Eine knalldeutsche Oper | |
„Wegen grauser Freveltaten/ward der Boden hier verflucht“, singt der | |
verzweifelt-frohe Geisterchor. „Drum wird er von uns gesucht.“ Ja, „Der | |
Vampyr“, obwohl angelehnt an eine Erzählung von John Polidori, ist eine | |
knalldeutsche Oper. | |
Mit dem Lokalkolorit aber implantiert ihr Ersan Mondtag, für Regie und | |
Bühne zuständig, auch die Beziehung des Komponisten zu Hannover: Heinrich | |
Marschner hat 30 Jahre lang an der Leine gelebt, dort ist er auch begraben. | |
Ohne es zu ahnen, hatte er, als er im Januar 1831 sein Amt als | |
Opern-Kapellmeister antrat, das Ende seiner Karriere erreicht. | |
Dabei sah es damals richtig gut aus für ihn: Kurz nach dem auch | |
international erfolgreichen „Vampyr“ – allein 60 Vorstellungen in London!… | |
hatte er mit „Die Jüdin und der Templer“ nach Walter Scott einen zweiten | |
Top-Hit gelandet. Marschner war 35, zweimal verwitwet, glücklich neu | |
verheiratet. | |
Der Job in Hannover: mit 1.000 Talern Jahresssalär echt mies bezahlt. Er | |
musste aus den eigenen Ersparnissen 800 Taler verbrauchen, [4][um in der | |
teuren Stadt über die Runden zu kommen], aber hey!, die erste | |
Festanstellung, und direkt beim König! Das ist doch nicht nichts für den | |
Sohn eines böhmischen [5][Horndrechslers]! Das ist doch ein Anfang! | |
Allerdings der Anfang des Endes, sein Job wird den armen Kerl aufzehren. Da | |
ist das ständige Barmen bei Hof um ein wenigstens auskömmliches Gehalt, das | |
ewige Betteln um etwas Zeit fürs Komponieren, später dann das Mobbing durch | |
einen inkompetenten Intendanten, der ihn hasst. | |
Und das Schlimmste: Hannovers Publikum jubelt Marschner zu, auch, als er | |
nur noch behagliche Routinekompositionen fabriziert, die überall sonst | |
durchfallen. Berlin, Budapest, Wien: Marschner weiß, dass Komplotte gegen | |
ihn geschmiedet werden, den treudeutschesten Tonsetzer, während die | |
Opernintendanzen [6][ihren welschen Chefdirigenten] den Zucker nur so | |
reinblasen in den … Ist doch wahr! | |
Das alles jedoch passiert viel später. Der selbstmitleidige Nationalismus | |
ist im „Vampyr“ höchstens angelegt – viel unsichtbarer als das wilde Hee… | |
das, einmal aufgetreten, sofort unter die Erde verdrängt wird. Von dort aus | |
spukt es als irres Trillern noch durch die volksliedhaftesten Passagen der | |
Oper. | |
Mondtag macht das einkomponierte Unheimliche elegant sichtbar: Er lässt | |
drei Dämonenkinder durch die Fest- und Sauftableaus tanzen, mittels derer | |
deutsche Opern nun mal die ganz normalen Leut’ definieren. Von ihnen hebt | |
sich der von Michael Kupfer-Radecky geschmeidig und sexy gesungene Vampyr | |
[7][mit expliziten Beethoven-Anleihen heroisch ab]. | |
Dagegen wirkt Norman Reinhardt als sein guter Widerpart Edgar leblos und | |
Mercedes Arcuri als dem Biss entrinnende Malwina vor allem dominant. Die | |
Komposition verlangt das auch so: Kaum ist Ruthwen in d-Moll geoutet und | |
beseitigt, schmettert sie ihr bigottes Triumphlied in A stahlhart über die | |
Rampe. Es lehrt, dass Schlimmes keinem passiere, der „Gottes Furcht im | |
frommen Herzen“ trage. Eine grausame Moral. Erbarmen kennt sie keins. | |
[8][Erdölabhängigkeit] und Konsumismus dienen als Landmarken des | |
Deutungshorizonts. Erzählt werden soll laut Dramaturg Till Briegleb | |
insbesondere die Story vom Außenseiter Ruthwen, die Geschichte seiner – | |
unmenschlichen – Entmenschlichung. Das ist plausibel. | |
Nur ist man dafür auf die Idee verfallen, ein paar Götter im Exil durch die | |
Inszenierung irren zu lassen: Oana Salomon schwebt, seltsam textunsicher, | |
als früh verteufelte babylonische Astarte vom Schnürboden herab: Sie ist | |
die Vampyrherrscherin. Ahasver, der Ewige Jude (Jonas Grundner-Culemann), | |
latscht als schwafeliger Wiedergänger des Brian von Nazareth durchs | |
Geschehen. Hinzu kommt ein logorrhöischer Lord Byron, den Benny Claessens | |
in pinkem Samtanzug Mattwitze reißen lässt. | |
Das wirkt, als hätte man für kluge Gedanken keine szenische Entsprechung | |
gefunden. Zugleich ist es möglicherweise unklug, ausgrenzende Stereotype | |
wiederzubeleben, um sie, gebrochen, zu reflektieren: Das übersieht, dass | |
Musik die Macht hat, über jede solche Brechung hinwegzutanzen, ja: die | |
Macht, zu berauschen. | |
Dank Stephan Zilias’ temperamentvollem Dirigat und der Lust des | |
Staatsorchesters am Spielen [9][übt sie diese Macht auch aus]: Sie übertönt | |
noch im Pianissimo die Vernunft. Besonders gelingt dies Sopranistin Nikki | |
Treurniet als zweiter Vampyrsbraut, wenn sie mit ihrer großen Solo-Romanze | |
den ganzen Saal in Wärme hüllt. | |
Dieses balladeske Lied ist pures Othering in zärtlichstem f-Moll: Es | |
designiert „den bleichen Mann“, den die junge Frau bloß nicht ansehen | |
solle, denn dann wär es bald um sie gethan, und dann … schlimm, schlimm, | |
schlimm. Und doch, was sich hier ausspricht, ist keine Angst, sondern | |
Sehnsucht nach dem Verbotenen. Wunderschön. Ein Highlight. Sie wird sterben | |
müssen. | |
29 Mar 2022 | |
## LINKS | |
[1] /Geplante-Studie/!5830226 | |
[2] https://www.youtube.com/watch?v=hEinCgoA48E | |
[3] https://zukunft-heisst-erinnern.de/orte-der-verfolgung/gedenkort-neue-synag… | |
[4] https://archive.org/details/bub_gb_s-MuAAAAIAAJ/page/n13/mode/2up?q=800 | |
[5] https://austria-forum.org/af/Heimatlexikon/Horndrechsler_und_-schneider | |
[6] https://www.deutsche-biographie.de/sfz80807.html | |
[7] https://www.jstor.org/stable/733849?searchText=%22Heinrich%20Marschner%22%2… | |
[8] /Autofahren-in-Kriegszeiten/!5838228 | |
[9] https://www.youtube.com/watch?v=pBqYcaU7YEI | |
## AUTOREN | |
Benno Schirrmeister | |
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