| # taz.de -- Komödie über Vampire: Der Lynchmob ist nicht weit | |
| > Der Regisseur Julian Radlmaier hat mit „Blutsauger“ eine Vampirkomödie in | |
| > marxistischer Manier gedreht. Sie ist eine Ode ans politische | |
| > Filmemachen. | |
| Bild: Blutsauger überall: die Fabrikantin Octavia Flambow-Jansen (Lilith Stang… | |
| Dem Vampir, wie jedem Mythos, eignen zwei ineinander verschlungene | |
| Funktionsweisen. Er ist Welterklärungsmodell und – als Aberglaube – | |
| zugleich die Verblendung jeder historischen Erkenntnis. Die | |
| Volkserzählungen über geplagte Dorfgemeinschaften und sterbendes Vieh aus | |
| dem ländlichen Europa der frühen Neuzeit haben selbstverständlich keinen | |
| übersinnlichen Urgrund. | |
| Es waren weniger die nächtlichen, vampirischen Heimsuchungen, die die | |
| verarmte Landbevölkerung auslaugten, sondern die feudalistische | |
| Agrarwirtschaft und die mangelhaften Kenntnisse um Zoonosen wie Milzbrand. | |
| Dass diese Vampirerzählungen ihr zentrales Übel bisweilen intuitiv im Adel | |
| ausmachten, mag man ihnen vorsichtig zugutehalten. Dennoch war ihre | |
| historische Urteilskraft relativ begrenzt. Ähnlich wie im europäischen | |
| Hexenglauben konnte sich der Vorwurf des Vampirismus an jeden richten, der | |
| in der Enge dörflicher Gemeinschaften als sozial verdächtig galt. Wo solche | |
| Verdächtigungen umgehen, ist der mit Fackeln und Mistgabeln bewaffnete | |
| Lynchmob nicht weit. | |
| ## Antisemitismus und Vampirmythos | |
| So existiert wenig verwunderlich eine starke Affinität zwischen modernem | |
| Antisemitismus und europäischem Vampirmythos. Friedrich Wilhelm Murnaus | |
| „Nosferatu“ (1922) reflektiert diesen Konnex wohl am explizitesten. Seine | |
| Vampirfigur ist ein gieriger, physiognomisch deformierter Kapitalist aus | |
| dem Ausland, der Seuchen und Unordnung ins beschauliche Wisborg bringt. | |
| Der Häusermakler Knock, mittlerweile unter Nosferatus Bann, darf per | |
| Zwischentitel kundtun: „Sie können einen schönen Batzen Geld verdienen, es | |
| kostet nur ein wenig Mühe, ein bisschen Schweiß und vielleicht ein wenig | |
| Blut.“ | |
| Demgegenüber hatte die Schauerliteratur des neunzehnten Jahrhunderts, etwa | |
| Bram Stokers Nosferatu-Vorlage „Dracula“ (1897) und vor allem Joseph | |
| Sheridan Le Fanus weiblicher Vampir „Carmilla“ (1872), dem Vampir bereits | |
| eine ästhetische Mehrdimensionalität verliehen. Die orale Stimulanz des | |
| Bisses wird hier weniger als schauerliche Zersetzung von Sitte und | |
| Tradition beanstandet, sondern als schaurig-schöne, pansexuelle Erfüllung | |
| affirmiert. | |
| Vor allem das US-amerikanische und britische Kino sollten diese Komponente | |
| ausschöpfen, ließen den Antisemitismus fallen, um den Vampir als | |
| massenkulturelles Objekt der Begierde zu installieren. Tod Brownings | |
| „Dracula“ (1931) erzählt relativ unverhohlen, wie es um Draculas | |
| Beziehungsleben bestellt ist. Er unterhält eine sadomasochistische | |
| Beziehung zu seinem Opfer Renfield wie auch eine Liaison zu drei untoten | |
| Frauen, die dann und wann aus ihren Särgen steigen, wenn es ihnen nach | |
| Dracula verlangt. | |
| ## Sinnlichwerden des Vampirs | |
| Die kühle Erotik des Hauptdarstellers Bela Lugosi machte ihn zum Weltstar, | |
| sein Spiel wurde stilbildend. Noch in David Bowies Bühnenpersonae der | |
| Siebziger und frühen Achtziger finden sich Spuren davon, in Tony Scotts | |
| „The Hunger“ (1983) schließlich zog er mit Catherine Deneuve als | |
| lackledernes Vampirpaar durch die New-Wave-Clubs. Seit Bela Lugosi war der | |
| Vampir nicht mehr bloß übersinnlich, sondern vor allem sinnlich. | |
| [1][Julian Radlmaiers „Blutsauger“], unklar ob vom Regisseur oder von | |
| anderer Seite mit dem Untertitel „marxistische Vampirkomödie“ versehen, | |
| nähert sich dem Vampirmythos auf mehrfacher Ebene an. Als | |
| schelmenromanhafte Erzählung über sommerlich-sinnliche Liebe zwischen den | |
| Klassen. Als marxistischer Findungsprozess zwischen falschen | |
| Welterklärungen und richtiger historischer Erkenntnis – und nicht zuletzt | |
| als Ode an das politische Filmemachen. | |
| Wir befinden uns in einem Badeort an der Ostsee im Jahre 1928: Ein bei | |
| Stalin in Ungnade gefallener Schauspieler ([2][Alexandre Koberidze]), | |
| eigentlich auf der Durchreise gen Hollywood, verguckt sich in die | |
| Fabrikantin Flambow-Jansen (Lilith Stangenberg) und gibt sich kurzerhand | |
| als russischer Baron aus. | |
| Doch auf den goldenen Feldern an der Küste werden bleiche Landarbeiter mit | |
| Bisswunden am Hals aufgefunden, ein Marx-kritischer Marxlesekreis tagt in | |
| den Dünen, und allerhand Unsympathen aus der herrschenden Klasse trudeln in | |
| die Fabrikantenresidenz zum Fest ein. | |
| ## Reaktionäre Tante, falscher Baron | |
| Etwa die reaktionäre Tante der Flambow-Jansen (Corinna Harfouch) und ein | |
| aalglatter Jungfaschist (Daniel Hoesl). Der falsche Baron beginnt derweil | |
| einen Vampirfilm mit der Fabrikantin in der Hauptrolle als | |
| Bewerbungsschreiben für Hollywood zu drehen. Als Kameramann assistiert der | |
| unglücklich in Flambow-Jansen verliebte Diener (Alexander Herbst), während | |
| der lokale Algensammler und Wunderdoktor (Kyung-Taek Lie) den Vampir gibt. | |
| Wenn man das Unternehmen von Radlmaiers Film zusammenfassen will, so stellt | |
| „Blutsauger“ einen sehnsüchtigen Versuch dar. Den, im deutschen Film eine | |
| eigenwillige Formsprache, eine politische Haltung und ein Bekenntnis zum | |
| Kino zusammenzudenken, keines der drei Elemente die anderen verstellen zu | |
| lassen. Die Kamera vertraut auf statische Einstellungen, setzt gelegentlich | |
| langsame Fahrten und Schwenks ein, in denen sich Meer, Stoppelfelder und | |
| Steilküsten schier endlos ausdehnen können. | |
| Kostüme und Sets spielen mit verhaltenen Anachronismen, machen klar: Trotz | |
| aller historischen Referenzen soll hier kein verkleidetes Schaulaufen | |
| entstehen. Radlmaier interessiert sich für das vampirische Nachleben der | |
| Vergangenheit in der Gegenwart, tatsächlich für eine Totalität. Viele der | |
| Totalen im Film gehören zu seinen schönsten Einstellungen, in denen die | |
| Figuren mit ihren unterschiedlichen Plänen und Klassenstandpunkten | |
| einschrumpfen, sich verlieren. | |
| Seine Hausaufgaben hat Radlmaier insofern gemacht, als dass er sich | |
| verbittet, seine politische Utopie in manifeste Bilder zu übersetzen. Als | |
| der proletarische Schelmenbaron und die Fabrikantin einmal aufs Meer | |
| schauen, erzählt sie von einer ihrer Visionen: „Eine Frau steigt aus dem | |
| Wasser, aber sie bleibt undeutlich, man stellt sich ganze Welten vor aber | |
| vielleicht ist da auch wieder nichts, ein schwarzes Loch.“ | |
| ## Eine bessere Welt | |
| Den Hauch einer Ahnung, wie die bessere Welt aussehen könnte, liefert nur | |
| das Kino als kollektive Träumerei. In der Mitte des Films gibt es eine | |
| Montagesequenz, die den Drehbeginn des für Hollywood vorgesehenen | |
| Vampirfilms zeigt. Eine Aneinanderreihung von albernen, bizarren und | |
| luftspiegelnden Einstellungen. Die Klassenfeindin Flambow-Jansen lässt sich | |
| vom algensammelnden Wunderdoktor beißen, bevorzugt in den Hals. | |
| Offenbar eine delikate Regieentscheidung, zu der sie und der liebeskranke | |
| Diener den falschen Baron erst überreden müssen. Es wird gerannt, sich im | |
| Sand gewälzt, mit Spiegeln und Pflöcken hantiert und, vor allem, zusammen | |
| am Strand gesessen, getrunken und über Einstellungen diskutiert. | |
| So finden sich alle Beteiligten, ihrer unterschiedlichen Lebenswege zum | |
| Trotz, beinahe in so etwas wie guter Gesellschaft wieder. Das Schönste am | |
| Drehen seien die langen Pausen zwischen den Einstellungen, in denen man | |
| nichts tut, sinniert der Schelmenbaron einmal. Das wäre eine Utopie des | |
| Kinos: Film als Arbeit, die man macht, um alle Arbeit verschwinden zu | |
| lassen. | |
| Nichtsdestotrotz möchte Radlmaiers Film den Vampirmythos kritisch auf seine | |
| ideologischen Implikationen abklopfen und wartet im Finale doch noch mit | |
| einem fackeltragenden Lynchmob auf. Haarsträubend ahistorisch ist | |
| allerdings die kausale Verbindung, die „Blutsauger“ hier herzustellen | |
| scheint: dass ausgerechnet eine Vorführung des für Hollywood angedachten | |
| Sexvampirfilms die Pogromstimmung aufflammen lässt. | |
| ## Kino und die Affekte | |
| Denn Schockerfahrung im Kino animiert das Publikum mitnichten zu | |
| totalitärer Raserei, sondern zerstreut affektiv jegliche Disposition dazu. | |
| Das zu Ende der Zwanzigerjahre gärende Unbehagen an der Moderne entlud sich | |
| in Europa in antisemitischem Wahn, in den USA sublimierte es sich hingegen | |
| in die Popularität lustvoller, befreiender Horrorunterhaltung. | |
| Dass die „marxistische Vampirkomödie“ zu ihrem Schluss von einer mahnenden | |
| Ernsthaftigkeit eingeholt wird, ist vielleicht Symptom einer Zeit, die | |
| entgegen Marx’ Empfehlung die Tragödie der Farce vorzieht. | |
| In seinen „Freibeuterschriften“ schrieb [3][Pier Paolo Pasolini] über die | |
| veränderte politische Kultur der Mittsiebziger: „Es gibt Erwachsene in | |
| meinem Alter, die abwegig genug sind zu glauben, dass der (fast schon | |
| tragische) Ernst […] besser sei als die,dumme' Fröhlichkeit von damals. | |
| Ernst zu sein anstatt zu lachen, halten sie für eine männlichere Art der | |
| Lebensbewältigung. In Wahrheit sind sie nichts als Vampire, die befriedigt | |
| feststellen, dass auch ihre unschuldigen Opfer zu Vampiren geworden sind.“ | |
| Wir befinden uns also in guter Gesellschaft. | |
| 10 May 2022 | |
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| Daniel Moersener | |
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