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# taz.de -- Das Jahr 2022 und die Dystopien: Die überleben wollen
> Im Jahr 2022 kommt die Handlung des Science-Fiction-Films „Soylent Green“
> (1973) im Heute an. Dystopien handeln oft von Pandemien, Corona ist
> anders.
Bild: Zukunft mit Maske: Ungemütliche soziale Zustände im Science-Fiction-Fil…
The year: 2022. The place: New York City. The population: 40.000.000“. Die
Texttafel zu Beginn von Richard Fleischers Science-Fiction-Film „Soylent
Green“ verheißt nichts Gutes.
In der düsteren Zukunftsvision platzt die Stadt aus allen Nähten, der
Protagonist, Polizist Frank (Charlton Heston), klettert im Treppenflur über
Lebende und Tote, sein Mitbewohner Sol (Edward G. Robinson) erstrampelt
sich den nötigen Strom auf einem quietschenden Fitnessrad, und beide nehmen
fast ausschließlich bunte, fischige Plätzchen namens Soylent Red, Soylent
Yellow und eben Soylent Green zu sich. Der deutsche Titel „Jahr 2022 – die
überleben wollen“ fixiert den Zeitpunkt: Die Geschichte spielt jetzt.
Laut der letzten US-Volkszählung hat New York City allerdings momentan nur
etwas über 8,8 Millionen Einwohner:innen. Und es existiert dort zwar die
gleiche klassistische, durch soziale Spannungen geprägte Arm-Reich-Schere
wie im Rest der Welt. Doch von der Filmszenerie ist die Stadt weit
entfernt. Wie kommt Fleischers beängstigende Vision also zustande?
## Unbehagen am Bestehenden
Der Amerikanist Arno Heller schreibt in einem Aufsatz im 1988 von ihm
herausgegebenen Sammelband „Utopian Thought in American Literature“ über
Utopien und Dystopien: „Ihr zentraler Gestaltungsimpuls entspricht jeweils
dem Unbehagen an bestehenden Zuständen und dem daraus resultierenden
Bedürfnis, mittels antizipatorischer Extrapolationen oder imaginativer
Planspiele gesellschaftliche und/oder politische Gefahren bzw. auch deren
Überwindung in fiktionalisierter Form aufzuzeigen.“
„Soylent Green“ ist eine Dystopie und hat als solche also die Aufgabe,
durch ein „imaginatives Planspiel“ (40 Millionen Einwohner:innen) das
„Unbehagen am bestehenden Zustand“ auszudrücken: Als er das Script 1972
verfasste (der US-Kinostart erfolgte im April 1973), ging der Drehbuchautor
Stanley R. Greenberg davon aus, dass es 50 Jahre später, heute, vor allem
die ausreichende Ernährung der (Über-)Bevölkerung sein würde, die die
Gesellschaft fordert.
Greenbergs Vorstellung basiert dabei auf der Science-Fiction-Novelle „Make
Room! Make Room!“ von Harry Harrison. Dieser Roman des aus Connecticut
stammenden Science-Fiction-Fans und WW-II-Waffenexperten Harrison, der auch
als Illustrator und Comiczeichner arbeitete, war 1966 erschienen, angeblich
angeregt durch die Aussage eines Inders, der ihn einst auf das Problem der
drohenden Überbevölkerung in seinem Heimatland aufmerksam gemacht hatte.
## Vegetarischer Steakersatz
Harrisons Protagonist ist – wie Hestons Charakter im Film – Polizist im
überfüllten New York und lebt mit einem älteren Herrn zusammen. Das Wort
„Soylent“ tauchte im Buch nur als Bezeichnung für einen aus „Soy“ (Soj…
und „Lent“ (Linsen) hergestellten, vegetarischen Steakersatz auf, ansonsten
schreibt Harrison von „roten Keksen“ oder „Kekskrümeln“, die von sämt…
Beteiligten mit Todesverachtung hinuntergewürgt werden: „Er bestrich den
kleinen roten Keks dünn mit Margarine, biss hinein und rümpfte die Nase,
während er kaute. ‚Ich glaube, die Margarine ist ranzig‘“.
(Im Roman sind die Kekse Nebensache, stattdessen stand ein sozialkritischer
Crime Plot im Mittelpunkt. Harrison war mit der Leinwand-Adaption recht
unzufrieden.)
Clou und Kulminationspunkt des Films, der Heston bis heute einen sicheren
Platz in den erinnerungswertesten Filmszenen aller Zeiten garantierte, ist
die Erkenntnis, dass Soylent Green gruselig-kannibalistische Ingredienzien
hat, namentlich aus (reichlich vorhandenem …) Menschenfleisch besteht: Mit
Hestons verzweifeltem Ausruf „Soylent Green is people!“ endet der Film.
Doch Harrison hatte in seinem Prolog geschrieben: „… bei der gegenwärtigen
Wachstumsrate werden die Vereinigten Staaten binnen 15 Jahren über 83
Prozent der Jahresproduktion aller Rohstoffe auf der Erde verbrauchen.“
Hinter der Dystopie steckte also der noch immer gültige Vorwurf, dass die
Reichen konsumieren, während die Armen hungern. Denn in Dystopien, so
Heller, „bedingen sich Gegenwartskritik und Zukunftsprojektion gleichsam
gegenseitig“, und spiegeln „massenkulturelle Wünsche und Ängste“.
## Kehrseite von Utopien
Dystopien sind damit die Kehrseite von Utopien, die die Zukunft oder die
Gegenwart rosig malen: Als erste, das Genre erschaffende Utopie gilt ein
1516 erschienener Dialog von Thomas Morus mit dem Titel „Von der besten
Verfassung des Staates und von der neuen Insel Utopia“, in dem der
Politiker eine fiktive Insel beschreibt, auf der die Menschen
gleichberechtigt in gemeinschaftlichen Besitzverhältnissen zusammenleben.
Dass ein politisches Motiv zum utopischen Denken anregt, beschreibt Heller
ebenfalls: „Auch die amerikanische Verfassung wurzelt in ihren Ursprüngen
in einer weit zurückliegenden utopischen Vision, die schließlich in der
konkreten Situation der amerikanische Unabhängigkeitsbestrebungen und der
Gründung der Republik Wirklichkeit wurde.“
Der erwähnte Sammelband widmet sich umfassend dem Genderstandpunkt. Denn
feministische Themen nehmen – gemäß der Devise der Gegenwartskritik – in
derartigen Fantasien viel Platz ein, wurden und werden oft von Frauen
erdacht. Autorinnen wie Charlotte Perkins Gilman („Herland“, 1915), Karin
Boye („Kallocain“, 1940) oder [1][Margaret Atwood („The Handmaid’s Tale…
1985)] erzählen von schönen und finsteren Welten. Als erste echte Dystopie
gilt gar Mary Shelleys Roman „Verney, der letzte Mensch“ von 1826, der 2021
erstmalig ungekürzt auf Deutsch erschien.
Eine Frau hat somit den Grundstein für die aktuellste aller dystopischen
Assoziationen gelegt. Denn anders als zum Beispiel beim durch das
ungerechte „System“ ausgelösten Soylent-Green-Drama, spielt in Shelleys
Apokalypse eine Seuche die Rolle des „point of attack“: Es ist im Buch die
Pest, die die umstürzlerischen Pläne einiger Figuren zunichte macht.
## Durch Virus zu Vampiren mutiert
Viele Dystopien setzen eine „Pandemie“ an den Beginn ihrer Handlung.
Richard Mathesons 1954 erschienenes, von Sexismen und Redundanzen
wimmelndes Erstlingswerk „Ich bin Legende“ wurde dreimal verfilmt – 1964
mit Vincent Price („The Last Man on Earth“), 1971 mit Charlton Heston („D…
Omega-Mann“) und 2007 mit Will Smith – und inspirierte [2][George A. Romero
angeblich zu „Die Nacht der lebenden Toten“]. In ihm kämpft der vom Hang
zum Alkohol und seinem „Sexualtrieb“ gepeinigte Held mit Vampiren – oder
Menschen, die durch ein Virus zu Vampiren wurden.
Der Protagonist Robert Neville ist immun und versucht, wissenschaftliche
Hintergründe für das „vampirische“ Verhalten seiner Gegenspieler:innen
zu finden: „Die Sonnenstrahlen mussten irgendwie auf ihr Blut einwirken!
Hieß das, dass alles eine Beziehung zum Blut hatte? Der Knoblauch, das
Kreuz, der Spiegel, der Pfahl, das Tageslicht, die Erde, in der manche den
Tag verschliefen?“
In den Kinoversionen wurden aus den Vampiren zombieartige Wesen. Gemein ist
jedoch dem literarischen und den filmischen Helden, dass eifrig Gegenmittel
zu der „Krankheit“ entwickelt werden – im Buch sind es „Pillen“, die …
den toten „lebende“ Vampire machen, auf diese Art deren Fortbestehen
garantieren – und Neville als letzten Nichtinfizierten in eine
Außenseiterrolle drängen. In den Filmen finden sich vertraute Bilder von
Spritzen, mit denen aus Blut gewonnene „Antikörper“ verabreicht werden.
Ähnlich wie in der aktuellen Diskussion um eine Spaltung der Gesellschaft
in Geimpfte und Ungeimpfte, spielt diese Dystopie somit Zäsur- und
Entfremdungsvisionen durch.
Allerdings gibt es weder in „Ich bin Legende“ noch in anderen dystopischen
oder schlicht medizinischen Seuchenthrillern wie Terry Gilliams „12
Monkeys“ von 1995, Wolfgang Petersens „Outbreak“ von 1995, Fernando
Meirelles „Die Stadt der Blinden“ von 2008 oder [3][Soderberghs „Contagio…
von 2011] Menschengruppen, die freiwillig auf einen probaten Schutz vor der
Pandemie verzichten, weil sie glauben, eine globale, verschwörerische
Gangsterbande wolle sie „chippen“ oder unfruchtbar machen. Diese
Vorstellung ist anscheinend selbst den fantasievollsten Dystopist:innen
zu doof.
12 Jan 2022
## LINKS
[1] /Margaret-Atwoods-Die-Zeuginnen/!5624819
[2] /Nachruf-auf-George-Romero/!5427073
[3] /Contagion-von-Steven-Soderbergh/!5109523
## AUTOREN
Jenni Zylka
## TAGS
Science-Fiction
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