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# taz.de -- Film „Wir könnten genauso gut tot sein“: Der böse Blick im Ba…
> Natalia Sinelnikovas Debütfilm „Wir könnten genauso gut tot sein“
> verdichtet soziale Missstände. Er erzählt von einer isolierten
> Hochhausgemeinschaft.
Bild: Privilegierte Bürgerwehr: Hausmeister Gertie Possner (Jörg Schüttauf) …
Ein Mann und eine Frau hetzen mit ihrem Sohn durch den Wald. Die beiden
Erwachsenen halten das Kind in der Mitte an der Hand, in der anderen haben
sie je eine Axt. Am Waldrand entledigen sie sich der Äxte und laufen auf
ein Hochhaus zu, das sich in der Ferne aus dem Grün erhebt. Als sie den
Zaun des Geländes erreichen, öffnet sich ein Tor.
Im Foyer des Hauses sucht die Sicherheitsbeauftragte des Hauses die
Erwachsenen mit einem Metalldetektor ab. Als sie fertig ist, zeigt sie der
Familie eine der Wohnungen. Die Familie kann ihre Verzweiflung kaum
verbergen. Das „Phoebushaus“ ist in Natalia Sinelnikovas Debütfilm „Wir
könnten genauso gut tot sein“ eine Bastion gegen die Welt außerhalb des
Zauns. Den Gefahren der Welt setzt diese Gated Community bekennende
Spießigkeit entgegen.
Sinelnikova bedient sich der Figur der Sicherheitsbeauftragten Anna (Ioana
Iacob), um die Zuschauer_innen in die Welt des „Phoebushauses“
einzuführen. Dazu gehört ein penibler Auswahlprozess von Bewerber_innen auf
die raren Plätze im Haus, deren Bewerbungen in einem kühlen Konferenzraum
beraten und abgestimmt werden.
Wer eine der Wohnungen ergattert hat, muss sich einem strengen Regiment
unterwerfen. Sichtbare Verstöße gegen den Verhaltenskodex werden scharf
geahndet. Annas Tochter Iris hat sich in die zusätzliche Sicherheit des
Badezimmers der Wohnung, die sie sich mit ihrer Mutter teilt,
zurückgezogen.
## Betrinken nur in der eigenen Wohnung
Für einen Auftritt mit ihrer Tanztruppe auf einem bunten Abend im
Erdgeschoss des Hauses verlässt Iris diesen Schutzraum ausnahmsweise. Doch
der Auftritt wird unterbrochen vom betrunkenen Hausmeister (Jörg
Schüttauf), der seinen Hund vermisst und die Bewohner_innen lautstark mit
einem Foto des vermissten Tieres konfrontiert.
Anna weist ihn pflichtschuldig darauf hin, dass man sich nur in seiner
eigenen Wohnung betrinken darf. Die Leiterin des Hauses verweist ihn für
die Nacht nach draußen vor die Tür. „Du weißt doch, wie wir in diesem Haus
Verleumder und Unruhestifter handhaben.“ Das Irish Dancing geht nach dieser
Unterbrechung weiter, klingt aber mit einem mal marschierend.
Willi, der verschwundene Hund von Hausmeister Gertie Possner, wird zum
Auftakt einer Reihe von Ereignissen, die die Sicherheit erschüttern. Trotz
aller Zäune und Sicherheitsvorkehrungen leben die Bewohner_innen in
Angst. Possner stilisiert einen der Außenseiter im Haus, einen jungen Mann,
der im Fahrstuhl seine Gedichte verkauft, zur Bedrohung. Wenig später
präsentiert er einen toten Marder als Leichnam seines Hundes.
Anna lässt die Lüge als Einzige im Haus nicht unkommentiert durchgehen. Ein
Eklat, der sie den Status ihrer Position im Haus kostet. Dieses Mal
verbringt sie die Nacht im Freien. Eine Bürgerwehr unter Führung Possners
nimmt die Sicherheit in die eigene Hand. Die Bewohner_innen meiden nun
selbst den Garten innerhalb des Zauns und verlassen das Gebäude nicht mehr.
Der Rückzug von Annas Tochter Iris ins Badezimmer wird zunehmend skeptisch
beäugt. Im Haus macht das Gerücht die Runde, Anna schließe ihre Tochter in
der Wohnung ein. Iris wiederum ist überzeugt, den bösen Blick zu haben.
Mutter und Tochter kommunizieren durch eine Öffnung in der Badezimmertür,
wechseln zwischen Deutsch und Polnisch. Aus der Sicht der Mutter macht das
Verhalten der Tochter ihre Position im Haus noch prekärer. Immer
verzweifelter versucht sie, Iris zu überzeugen, das Badezimmer zu
verlassen.
## Das Gefühl sicher zu sein
Die Anfangsszene des Films ist unterlegt mit dem Chorlied „Intra muros tuti
sumus“ (Innerhalb der Mauern sind wir geschützt), gesetzt zur Melodie des
Neujahrslieds „Schtschedryk“ des ukrainischen Komponisten Mykola
Leontowytsch. „Das Gefühl sicher zu sein ist genauso wichtig wie die
Sicherheit selbst“, belehrt die Leiterin des Hauses, als Anna ein letztes
Mal gegen das immer absurdere Vorgehen der Bürgerwehr protestiert.
„Wir könnten genauso gut tot sein“ entwirft im Mikrokosmos des
„Phoebushauses“ eine dystopische Gesellschaft, die im Namen der Sicherheit
und getrieben von Angst immer repressivere Züge annimmt. Die Kraft dieser
Dystopie hängt damit zusammen, dass Sinelnikova die Gesellschaft des Hauses
nicht als „das Andere“ zeigt. Die Bilder, die sie gemeinsam mit Kameramann
Jan Mayntz entwickelt hat, sind nüchtern und alltäglich und tragen darin
zur bedrückenden Atmosphäre bei. Mayntz’ Kameraarbeit für den Film wurde
auf dem Filmfestival in Tribeca ausgezeichnet.
Jörg Schüttaufs Hausmeister trifft ziemlich gut den Typus jener außer
Kontrolle geratenen Männer fortgeschrittenen Alters, die ihre „Bedenken“
auf „Querdenker“- und Montagsdemonstrationen in die Welt bläken. Als Anna
aus der Gunst der Bewohner_innen fällt, erinnert die Leiterin des Hauses
sie daran, dass sie sich damals für sie eingesetzt habe. Nicht alle seien
von so viel Diversität überzeugt gewesen.
Nachdem Anna aus der Gunst gefallen ist, fällt der Schleier, der den
Rassismus bislang verhüllt hat. Doch „Wir könnten genauso gut tot sein“
geht über diese konkreten Anknüpfungspunkte hinaus und macht lauernde
Entwicklungslinien des Autoritären in der Gesellschaft sichtbar. Bei
alledem entgeht Sinelnikovas Debütfilm den Fallstricken plumper
Überdeutlichkeit, die im deutschen Film grassiert. Stattdessen setzt der
Film auf einen sanften Humor, der sich unter anderem in den Interaktionen
Annas mit dem Hausmeister zeigt.
## Vorliebe für Dystopien
„Wir könnten genauso gut tot sein“ verbindet zwei Trends. Zum einen reiht
der Film sich ein in ein wiederbelebtes deutsches Genrekino, das sich mit
Namen wie Till Kleinert, Linus de Paolis und Christian Alvart verbindet.
Zum anderen passt der Film zur gegenwärtigen Vorliebe für mediale
Dystopien.
In Europa sind dies seit einiger Zeit vor allem Filme und Serien aus
Skandinavien. Lars Lundströms Serie „Real Humans“ imaginierte eine Welt mit
humanoiden Robotern als Dienstleistern. Die Serie wurde 2014 vom
schwedischen Fernsehen nach der zweiten Staffel abgesetzt, aber als
englischsprachige Serie „Humans“ reanimiert. Etwa zeitgleich mit dieser
Adaption im Auftrag von Channel 4 kam [1][Ben Wheatleys Hochhausdystopie
„High-Rise“] 2016 in die Kinos. Von [2][2015 bis 2019 präsentierte das
norwegische Fernsehen die Serie „Occupied“], in der Norwegen nach einer
Ölkrise von Russland besetzt wird.
Die dystopische Gesellschaft in „Wir könnten genauso gut tot sein“ ist
deutlich näher an der Realität als in den meisten dieser Beispiele. Mit
ihnen zusammen steht der Film für das Ende der Verheißung einer besseren
Zukunft und für eine Gegenwart, die in verschiedenster Weise zu kippen
droht.
[3][Als „Wir könnten genauso gut tot sein“ Anfang des Jahres die
Perspektive Deutsches Kino auf der Berlinale eröffnete], fand der Film
große Aufmerksamkeit. Und in der Tat: Selten hat ein deutscher Spielfilm in
den letzten Jahren Humor, Gesellschaftsanalyse und Stilsicherheit so
ausbalanciert wie dieser. „Wir könnten genauso gut tot sein“ vertraut auf
die Stärke seiner Bilder, die Dialoge sind frei von jeder Geschwätzigkeit,
die Besetzung überrascht bis in die Nebenrollen positiv. Natalia
Sinelnikovas Abschlussfilm an der Filmuniversität Babelsberg ist ein
Ausnahmefilm.
28 Sep 2022
## LINKS
[1] /Dystopischer-Film-zum-Brexit/!5314952
[2] /TV-Serie-Occupied-aus-Norwegen/!5249843
[3] /Jubilaeum-von-Berlinale-Sektion/!5830784
## AUTOREN
Fabian Tietke
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