| # taz.de -- Jubiläum von Berlinale-Sektion: Moorleiche in der Provinz | |
| > Die Berlinale-Sektion „Perspektive deutsches Kino“ wird 20 Jahre alt. | |
| > Hier wird die Vergangenheit sowohl aufgearbeitet als auch re-inszeniert. | |
| Bild: Die Polizistin Saskia Harder (Valery Tscheplanowa) in „Echo“ | |
| Dem hiesigen Filmnachwuchs eine Plattform zu geben, das war die Idee, als | |
| vor genau 20 Jahren die „Perspektive deutsches Kino“ als eigene | |
| Berlinale-Sektion ins Leben gerufen wurde. Anfangs von Alfred Holighaus | |
| geleitet, seit zwölf Jahren und in diesem Jahr zum letzten Mal von Linda | |
| Söffker. | |
| Viel hat sich seither im deutschen Film getan, viel wurde über ihn | |
| geschrieben, Ideen hin und her gewälzt, wie es anders, wie es besser werden | |
| kann. Denn dass es besser werden sollte, darüber sind sich alle Beteiligten | |
| – von Förderanstalten über Filmemacher:Innen bis zu | |
| Filmkritiker:Innen – einig; die Frage ist nur: Wie? Unzählige Werke werden | |
| jedes Jahr in Deutschland produziert, die Fördermittel fließen reichlich. | |
| Ein relevantes Publikum finden jedoch die wenigsten dieser Filme, was | |
| manchmal nicht zu begreifen, oft aber auch verständlich ist. | |
| Und so ist auch die diesjährige „Perspektive deutsches Kino“ ein | |
| interessanter, guter Überblick über den Filmnachwuchs und zeigt in sieben | |
| Spiel- und Dokumentarfilmen [1][die Qualitäten] und Schwächen der Branche | |
| und in gewisser Weise auch eines Landes und seines Selbstverständnisses. Es | |
| beginnt mit dem diesjährigen Motto „Echo der Vergangenheit“ und reicht zum | |
| nicht nur in diesem Jahrgang beliebten Schauplatz: dem [2][Wald]. | |
| Als mystisch aufgeladen gilt der deutsche Wald seinen Bürgern und | |
| Künstlern, viele Märchen der Brüder Grimm spielen dort, Dichter besangen | |
| ihn, doch nicht nur das Erhabene findet sich in Wäldern, sondern auch das | |
| Düstere, die Spuren, die Echos der Geschichte. | |
| ## Ein Rotkäppchen namens Anja Grimm | |
| So in Saralisa Volms Spielfilmdebüt „Schweigend steht der Wald“, basierend | |
| auf dem Roman von Wolfram Fleischhauer, dessen Plakatmotiv schon alles | |
| verrät: Kahle Bäume sind darauf abgebildet, im dichten Schneetreiben, das | |
| sich am oberen Bildrand zu den Streifen der Häftlingsbekleidung eines | |
| KZ-Insassen verändert. Und im Wald: Eine Frau – die auch noch Anja Grimm | |
| heißt! – mit rotem Mantel. Rotkäppchen auf den Spuren des ganz großen, | |
| besonders bösen Wolfs, man könnte sagen: alter und neuer Nazis. | |
| Auch in „Echo“ finden sich im Wald [3][tödliche Spuren der Vergangenheit] | |
| und im Film selbst Spuren des beliebtesten deutschen Genres: des Krimis. Es | |
| geht um die Polizeikommissarin Saskia Harder (Valery Tscheplanowa), die | |
| einst im Krieg in Afghanistan ein Attentat nur knapp überlebte. Nun ruft | |
| man sie in die Provinz, nach Friesland, wo eine Moorleiche gefunden wurde. | |
| ## Skurrile Landbevölkerung | |
| Die örtliche Polizei wirkt ein wenig überfordert, das Dorf ist skurril, die | |
| Kommissarin traumatisiert. Was sich wie die Kurzbeschreibung jeder zweiten | |
| „Tatort“- und „Polizeiruf“-Folge anhört, soll genau das sein: ein komp… | |
| Spiel mit Motiven aus deutscher Kultur und Geschichte. | |
| Zunehmend geraten die Ermittlungen in den Hintergrund, ein Bombenfund zieht | |
| die Aufmerksamkeit der Dorfbewohner auf sich und spannt Linien vom Zweiten | |
| Weltkrieg bis zur Gegenwart: Ruinen im Umfeld des Dorfes wurden einst von | |
| Zwangsarbeitern gebaut, der Blindgänger verweist auf die Folgen des | |
| Wehrmacht-Angriffskrieges, die durch Gewalt verursachten Traumata werden in | |
| der Gegenwart in Afghanistan fortgesetzt, auch wenn der Einsatz offiziell | |
| kein Krieg ist. | |
| Ein loses Geflecht aus Bezügen und Figuren lässt die Autorin und | |
| Regisseurin Mareike Wegener in ihrem Spielfilmdebüt entstehen. Dieses setzt | |
| sich ebenso ernsthaft mit den Traumata der deutschen Geschichte | |
| auseinander, wie es leicht und oft fast parodistisch das deutsche | |
| Selbstverständnis und der Deutschen liebstes Genre untergräbt. Einer der | |
| bemerkenswertesten Filme in der diesjährigen Perspektive, der nicht zuletzt | |
| durch seine prägnanten, streng komponierten Bilder überzeugt. | |
| ## Talentierte Kamerafrau | |
| Und die Kamerafrau Sabine Panossian ist es auch, der als Perspektive-Talent | |
| besondere Aufmerksamkeit zuteil wird. Bei jedem Film wird ein Gewerk | |
| besonders herausgestellt, mal ein Produzent, mal eine Cutterin – oder die | |
| Ausstatterin Elisabeth Kozerski. Sie arbeitete am Eröffnungsfilm „Wir | |
| könnten genauso gut tot sein“ mit, dem Regiedebüt der in St. Petersburg | |
| geborenen Natalia Sinelnikova. | |
| Ein abgelegenes Hochhaus und die umliegenden Gartenanlagen sind | |
| ausschließlicher Schauplatz einer subtilen Dystopie, in dem ausgewählte | |
| Menschen in einem Haus leben. Es dient als Allegorie für eine sichere | |
| Trutzburg, einen sicheren Hafen, sei es Deutschland oder Europa. | |
| Die Aufnahme ist restriktiv, die Angst vor dem Außen groß, dementsprechend | |
| schnell können Misstrauen und Verdächtigungen wachsen, die in diesem Fall | |
| die Sicherheitsbeauftragte Anna (Ioana Iajob) und ihre Tochter treffen. In | |
| der Berliner Trabantenstadt Marzahn wurde gedreht, doch dank der | |
| irritierenden Musik, dem unterschwelligen satirischen Tonfall und, ja, der | |
| genauen Ausstattung entsteht das Bild einer ganz eigenen Welt, die jedoch | |
| mehr mit unserer zu tun hat, als es den Anschein hat. | |
| ## Größeres Publikum erwünscht | |
| Auch diesem Spiel mit Genremotiven würde man ein Publikum auch jenseits des | |
| Festivals wünschen, doch das wird immer schwieriger. Im Wust an „Content“, | |
| der nicht mehr nur donnerstags in den Kinos startet, sondern täglich bei | |
| den diversen Streamern, fällt es gerade kleineren, ambitionierten, oft auch | |
| sperrigen deutschen Filmen schwer, sich durchzusetzen. | |
| Umso wichtiger, dass die [4][Berlinale] diesen Filmen in der „Perspektive | |
| deutsches Kino“ Öffentlichkeit gibt, denn oft sind gerade hier große, | |
| schöne, inspirierende Entdeckungen zu machen. | |
| 10 Feb 2022 | |
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| ## AUTOREN | |
| Michael Meyns | |
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