# taz.de -- Deutsches Kino auf der Berlinale: Wege in die Zukunft | |
> Die Berlinale-Sektion Perspektive Deutsches Kino bietet aufstrebenden | |
> Filmemachern ein Forum. Ihr aktueller Jahrgang ist wagemutig. | |
Bild: Genrekino über deutsche Albträume: Gro Swantje Kohlhof in „Schlaf“ … | |
Sind wir Deutschen dazu verdammt, uns mit der Vergangenheit | |
auseinanderzusetzen? Müssen wir uns immer wieder fragen, warum es so | |
gekommen ist, wie es kam? Zwei der interessantesten Beiträge, die in diesem | |
Jahr in der Perspektive Deutsches Kino zu sehen sind, legen diesen Gedanken | |
nahe. Aber bei genauerem Hinsehen nutzen auch sie den Blick auf Vergangenes | |
vor allem dazu, um Wege in die Zukunft aufzuzeigen. | |
Womit sie ideal in eine Reihe passen, die es sich zur Aufgabe gemacht hat, | |
jungen deutschen (oder vielmehr: in den Strukturen des deutschen Film- und | |
Fördersystems arbeitenden) Filmemachern eine Bühne für ihre ersten oder | |
zweiten Filme zu bieten. Das geschieht in diesem Jahr nicht mehr in einem | |
der Multiplex-Säle am Potsdamer Platz, sondern im Kino International. | |
Vielleicht ist es ein Zeichen der Wertschätzung, die [1][der neue | |
Berlinale-Leiter Carlo Chatrian] dieser oft ein wenig stiefmütterlich | |
behandelten Sektion entgegenbringt. | |
Aus nur noch acht Filmen besteht dabei das Programm, was aber laut der | |
Sektions-Leiterin Linda Söffker nicht auf einen Mangel an zeigenswerten | |
Filmen zurückzuführen ist. Man wolle sich schlicht bemühen, einen | |
konzentrierten Blick auf je vier Spiel- und Dokumentarfilme eines | |
bemerkenswert starken Jahrgangs zu richten. | |
Stark ist er besonders im Bereich der Dokumentation, wo vor allem | |
Filmemacherinnen ungewöhnliche Projekte wagten. Sandra Kaudelka etwa, die | |
für ihren Film „Wagenknecht“ die Vorsitzende der Linkspartei zwei Jahre | |
lang begleitete. Dass am Ende dieser Drehzeit dann Sarah Wagenknechts | |
Rückzug aus der Spitzenpolitik stand, war zu Beginn wohl nicht zu erwarten | |
gewesen. Für eine Filmemacherin war es aus dramaturgischer Sicht ein | |
Glücksfall, der den Blick hinter die Kulissen der deutschen Politik nur | |
umso prägnanter macht. | |
## Filmreife Familiengeschichte | |
Als Glücksfall muss man aus filmischer Sicht auch die Familiengeschichte | |
von Janna Ji Wonders betrachten. In ihrer epischen Dokumentation | |
„Walchensee Forever“ wird diese Geschichte nachgezeichnet, die 1920 begann | |
und mit Ende des Films noch keineswegs abgeschlossen ist. Wonders | |
konzentriert sich dabei auf die Frauen ihrer Familie, angefangen bei der | |
Urgroßmutter Apa, die zusammen mit ihrem Mann 1920 an den Walchensee zog. | |
Hier, in der malerischen Welt der bayerischen Voralpen, eröffnete die | |
Familie ein Ausflugscafé. | |
Es ist ein Ort, der die Familie zusammenhält – nicht immer freiwillig. | |
Schon Apas Tochter Norma hatte künstlerische Ambitionen, die sie spätestens | |
begraben musste, als ihre Töchter Frauke und Anna geboren wurden. Letztere | |
ist die Mutter der Regisseurin. Besonders Annas Interesse an Fotografie ist | |
die Basis für das reiche Material an Fotos und 8-mm-Filmen, die Janna Ji | |
Wonders zu einem Gesellschaftsporträt zusammenfügt. | |
Im Mittelpunkt steht dabei der Versuch der Frauen, aus den | |
patriarchalischen Strukturen auszubrechen und ein unabhängiges Leben zu | |
führen. Anna und Frauke gelang dies, zumindest phasenweise. Sie reisten | |
nach Mexiko und Indien. Frauke wurde Teil von Rainer Langhans’ Harem, kam | |
aber mit dem Freiheitsversprechen der 68er nicht zurecht und nahm sich das | |
Leben. Nun führt die nächste Generation die künstlerischen Ambitionen der | |
Frauen der Familie fort – in einem sehr persönlichen Film, der in dieser | |
Familiengeschichte das große Ganze findet und so von der deutschen Psyche | |
erzählt. | |
## Die deutsche Vergangenheit in Gestalt eines Wildschweins | |
Diese ist auch Thema des Spielfilmdebüts „Schlaf“ von Michael Venus, ein | |
Beitrag aus der Rubrik Genrekino. Die von Sandra Hüller gespielte Mutter | |
Marlene wurde zeit ihres Lebens von schweren Albträumen geplagt. In einem | |
verschlafenen deutschen Provinznest namens Stainbach (!) hofft sie | |
Antworten zu finden. Doch nachdem ihr im Schlaf die deutsche Vergangenheit | |
in Gestalt eines Wildschweins erschienen ist, fällt sie ins Koma. Auftritt | |
der jüngeren Generation: Tochter Mona (Gro Swantje Kohlhof) betrachtet die | |
Traumata ihrer Mutter mit Befremden, ahnt aber, dass auch sie nicht frei | |
von ihnen ist. | |
Ganz den Mustern des Genres entsprechend stößt Mona auf dunkle Geheimnisse, | |
die ihre Ursachen nicht in persönlicher, sondern in | |
gesamtgesellschaftlicher Schuld haben. Um Vertriebene geht es, um das | |
deutsch-polnische Verhältnis, um die Bemühungen der Ewiggestrigen, die | |
deutsche Vergangenheit umzuschreiben. | |
Nicht nur die Deutschen tragen an ihren Bürden, auch die Russen. Besonders | |
der russische Mann hat es nicht einfach, wie Natalija Yefimkina in | |
„Garagenvolk“ zeigt. Auf der Halbinsel Kola im eisigen russischen Norden | |
spielt sich ein erheblicher Teil des Lebens – vor allem der Männer, aber | |
auch mancher Frauen – in Garagen ab, die in endlosen Reihen am Rand der | |
Städte liegen. In den allerwenigsten stehen Autos, stattdessen haben sich | |
die Bewohner Werkstätten oder Proberäume eingerichtet und gehen Hobbys von | |
illegalem Schnapsbrennen bis zu Fischverkauf nach. Bisweilen nimmt das | |
durchaus befremdliche Formen an: In Uniformen der Roten Armee wird sich an | |
die guten alten Zeiten erinnert. | |
Doch so desolat dieses Leben auf den ersten Blick auch scheinen mag, am | |
Ende sind die Garagen auch ein Ort der Freiheit in einem repressiven | |
System. So gilt am Ende für diesen wie für die meisten Filme der | |
diesjährigen Perspektive: So ausweglos die Lage auch scheinen mag, wirklich | |
hoffnungslos ist sie am Ende doch nie. | |
22 Feb 2020 | |
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[1] /Die-Berlinale-DirektorInnen-im-Interview/!5662707 | |
## AUTOREN | |
Michael Meyns | |
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