Introduction
Introduction Statistics Contact Development Disclaimer Help
# taz.de -- Regisseur über kindliche Weltsicht: „Mach, was du willst“
> Der Film „Sthalpuran“ zeigt, wie ein Kind die Welt sieht. Regisseur
> Indikar erklärt, wie sein Hauptdarsteller seinen Vater verliert.
Bild: Szene aus „Sthaltpuran“
Der achtjährige Dighu zieht mit seiner Mutter und seiner Schwester aus der
Großstadt Pune an die indische Westküste. Der Vater hat die Familie
verlassen. Was der Grund für die Trennung, das Fortgehen des Vaters ist,
wissen die Kinder nicht. Dighu vermisst seinen Vater, gibt aber wie seine
etwas ältere Schwester bald das Fragen auf. Sein Tagebuch hilft dem Jungen,
Halt in der neuen Umgebung zu finden und mit dem Verlust und seiner Trauer
umzugehen. Immer wieder zieht es ihn zum Nachdenken an die Meeresküste.
taz: Herr Indikar, in Ihrem Film nimmt die Tonspur eine ausgesprochen
prominente Rolle ein. War Ihnen das schon bei der Planung wichtig?
Akshay Indikar: Für mich ist der Ton ein sehr wichtiger Teil des Kinos,
mehr noch als die Bilder. Bilder sind etwas Zweidimensionales, wohingegen
Ton es möglich macht, eine Vielzahl von Bedeutungen zu erzeugen und in den
Zuschauern psychologische Reaktionen hervorzurufen. Wir wollten
Tonstrukturen erzeugen, die im Publikum persönliche Erinnerungen wachrufen
sollten. Wir wollten den Eindruck erwecken, dass wir uns in einem Raum
bewegen. Das war einiges an Arbeit: Nur einige wenige Aufnahmen sind im
Originalton zu hören, der Großteil der Tonspur wurde in der Postproduktion
geschaffen.
Anders als in Ihrem ersten Film haben Sie bei „Sthalpuran“ mit Kindern als
Schauspielern gearbeitet. War das für Sie ein großer Unterschied?
Ja. Mit Kinderdarstellern zu arbeiten ist eine Herausforderung. Man kann
ihnen nicht direkt sagen, was man haben will. Man muss es in ihre Sprache
übersetzen. Wir haben versucht, die Kindheitserinnerungen des
Hauptdarstellers zu porträtieren, zu zeigen, wie ein Kind die Welt sieht,
wie es Dingen begegnet. Wir zeigen seine Reise zum Erwachsensein und wie es
auf die Veränderungen um sich herum reagiert. Ich habe dem Hauptdarsteller
viel selbst überlassen und ihm gesagt: Mach, was du willst. Nach zwei, drei
Einstellungen hat er dann einfach gemacht, was sich für ihn richtig
anfühlte. Dann habe ich einen Zettel genommen und die Dinge notiert, die er
nicht tun soll. Es gab ein paar Grundregeln: er durfte nicht mittendrin
aufhören zu spielen; wenn ich „Cut“ rufe, sollte er 30 Sekunden warten; und
oft habe ich gesagt, dass wir proben, das dann aber schon aufgenommen, weil
es so weniger Druck hatte.
In einer Szene des Films sehen wir Schausteller in Kostümen, die ein
Theaterstück aufführen.
In diesem Theaterstück geht es um Verlust und Tod. Dashavatar ist eine sehr
verbreitete Form von Volkstheater in Konkan und den anderen Regionen an der
Küste. Wir wollten klar machen, wie sich ein kleiner Junge die Welt
erklärt. Auf seinem Weg zum Erwachsenwerden lernt er viel über Verlust und
Leiden. Um das sichtbar zu machen, habe ich das Theaterstück in den Film
eingeführt. Dieselbe Idee steckt hinter der Szene, in der die Schwester des
Protagonisten Pluralformen lernt. Das macht jedes Kind in Indien, aber ich
wollte damit zeigen, wie Wörter das Weltverständnis formen.
Wie ist das Verhältnis von Theater und Film in Indien?
Viele Filmschauspieler kommen vom Theater. Aber für mich ist eher die
Zeitlichkeit von Kino interessant als seine Nähe zum Theater. Ich will
nicht, dass meine Schauspieler spielen wie im Theater. Theater ist in
Indien eher von Dramen dominiert. Ich wollte eher eine Bresson’sche Art des
Schauspiels, naturalistischer als im Theater. Ich habe die Schauspieler
weniger als Schauspieler genutzt, sondern einfach ihre Anwesenheit, habe
sie einfach die Räume mit ihrer Präsenz füllen lassen.
Kannten die Schauspieler vor dem Dreh bereits die gesamte Handlung des
Films?
Nein, auch währenddessen nicht. Niemand aus der Crew kannte die gesamte
Handlung. Nicht einmal der Kameramann. Das ist alles erst im Schnitt
zusammengefügt worden.
War das Ihr Konzept, so vorzugehen, oder hat sich der Film beim Drehen
weiterentwickelt?
Die Grundlagen der Handlung waren da. Aber viele Details wie der Teil, der
im Monsun spielt, haben sich erst später ergeben. Ich mag es, beim Dreh zu
improvisieren. Ich habe eher auf die Räume reagiert, in denen ich mich beim
Drehen bewegt habe, als dass ich alles vorher bestimmt hätte. Es gab
zahlreiche Berührungspunkte zwischen dem Leben des Hauptdarstellers und der
Rolle, die er in dem Film spielt. Sein Vater lebt nicht bei ihm, seine
Eltern sind dabei, sich zu trennen. Ich habe also versucht, so viel wie
möglich von seinen Anregungen in die Grundrisse der Handlung, die ich
hatte, einzubauen. Er hat mir viele Erinnerungen und Geschichten erzählt.
Ich habe zugehört und ihn und andere Kinder während des Castings befragt.
Standen die Dialoge im Drehbuch oder wurden sie auch improvisiert?
Die Dialoge waren von Anfang an da. Ich wusste, welche Szenen Dialog haben
würden und welche nicht. Auch die Idee mit den Tagebucheinträgen existierte
schon zu Beginn. Diese Einträge erklären nichts, sondern laden die
Zuschauer ein, Bedeutungen zu finden, wie etwa bei dem Satz: „Der Weg zur
Schule ist schöner als die Schule.“ Ich bin sehr von Satyajit Ray
beeinflusst, von Nuri Bilge-Ceylan und Abbas Kiarostami und der Art, wie
deren Filme die Psychologie von Kindern inszenieren. Aber an manchen
Stellen wie mit den Darstellern aus dem Dorf, dem Großvater und anderen,
haben wir nur die Situation beschrieben und sie aufgefordert, zu
improvisieren. Eine ganze Reihe Szenen ist so entstanden. Nach fünf bis
sechs Einstellungen haben wir dann entschieden, welche Dialoge drinbleiben
und welche nicht. Nach etwa acht Einstellungen hatten wir die Szene dann
so, wie wir sie haben wollten. Wir haben keine kurzen Einstellungen
gedreht, sondern recht lange. Am Ende hatten wir insgesamt 70–80 Stunden
Material.
Was bedeutet der Titel Ihres Films wörtlich?
„Sthalpuran“ kommt aus dem Sanskrit. Es heißt in etwa „Geschichte des
Raums“ oder eher „der Räume“, in dem Sinne, dass jeder Raum seine
einzigartige Geschichte hat. Es geht um die Einzigartigkeit von Räumen. Das
Festival hat mir gerade gesagt, dass sie als deutschen Titel „Zeit und
Raum“ gewählt haben, weil sie keine wirkliche Übersetzung des Titels finden
konnten.
Dighus Familie zieht anfangs von der Stadt Pune aufs Land. Haben die beiden
Orte eine besondere Bedeutung?
Es sind Gegensätze. Der Film wurde auf dem Land, in Goa, gedreht. Goa liegt
an der Küste wie die Region Konkan, wo der Film spielt. Der Junge zieht von
Pune, im Inland, an die Küste. Wir wollten auch das Leben in der
Küstenregion zeigen, die Dörfer, die Schule.
Der Film ist durch Naturaufnahmen strukturiert. Warum?
Ich habe Elemente wie alleinstehende Bäume benutzt, um eine episodische
Struktur, eine Musikalität zu erzeugen. Natur ist ein zentraler Teil in den
beiden Filmen, die ich bisher gemacht habe. Es gefällt mir, die Figuren mit
der Natur interagieren zu lassen. Wasser ist ein wiederkehrendes Motiv. In
„Sthalpuran“ tritt Wasser als Regen auf, als Ton oder als Meer. Die Figuren
sind entweder auf der Suche nach Wasser oder haben sehr viel davon. Ich
habe versucht, mir beim Filmemachen Regeln zu setzen, und der Bezug zum
Wasser ist eine davon. Wasser verbindet alle Menschen auf der Welt.
Ist Ihr Film in Indien kommerziell erfolgreich?
(Indikars Produzent, Sanjay Shetye, beantwortet die Frage:) Kommerziell
funktioniert er nicht. Ich habe ihn aus Liebe zum Kino gemacht und weil mir
die Geschichte gefiel.
Sie haben den Film den Menschen am Drehort gezeigt.
Ich will meinen Film nicht als „anderen Film“ darstellen. Das würde die
Zuschauer nur belasten, wenn sie wissen, dass sie etwas anderes sehen, als
sie gewohnt sind. Ich habe ihnen einfach nur gesagt: Es ist ein Film. Habt
einfach etwas Geduld, er wird euch gefallen.
28 Feb 2020
## AUTOREN
Fabian Tietke
## TAGS
Kinder
Indien
Schwerpunkt Berlinale
Schwerpunkt Berlinale
Roman
## ARTIKEL ZUM THEMA
Deutsches Kino auf der Berlinale: Wege in die Zukunft
Die Berlinale-Sektion Perspektive Deutsches Kino bietet aufstrebenden
Filmemachern ein Forum. Ihr aktueller Jahrgang ist wagemutig.
Neuer Roman von Preti Taneja: König Lear in Indien
Der Anspielungsreichtum des Romans ist gigantisch. Taneja verlinkt
Literatur mit Wirklichkeit, Geschichte mit Gegenwart, Shakespeare mit
Indien.
You are viewing proxied material from taz.de. The copyright of proxied material belongs to its original authors. Any comments or complaints in relation to proxied material should be directed to the original authors of the content concerned. Please see the disclaimer for more details.