# taz.de -- Retrospektive der Berlinale: Umkämpfte Freiräume | |
> Die Retrospektive der Berlinale ehrt die Hollywoodstars Mae West, | |
> Rosalind Russell und Carole Lombard. Frauen, die sich Erwartungen | |
> entziehen. | |
Bild: Rechts im Bild, trotzdem im Mittelpunkt: Mae West in „Comin’ to Town�… | |
Die Knallchargen reiten im Galopp ins Bild und in die Stadt. Angesichts der | |
Staubwolke räumen drei ältere Herren lieber ihren Platz auf der Veranda vor | |
dem Saloon. Um keinen Zweifel aufkommen zu lassen, gibt es noch einen Satz | |
vor dem Abgang: „Buck Gonzales und seine Leute. Der ist ein Böser, wir | |
gehen lieber.“ Wer hätte das angesichts des Geballers beim Reiten gedacht? | |
Alexander Halls „Goin’ to Town“ (1935) ist eine klobig inszenierte Komöd… | |
mit Musikeinlagen, jede zweite Einstellung sieht aus, als hätte Zeit und | |
Lust gefehlt, um das Ganze noch mal richtig zu drehen. Doch das | |
Erstaunliche ist, dass die Mittelmäßigkeit des Films die Wirkung seiner | |
Hauptdarstellerin noch steigert. Mae West ist in Halls Film die | |
Saloon-Entertainerin Cleo Borden. Buck Gonzales, die Hauptknallcharge, ist | |
ein Viehdieb, Farmer und Besitzer eines Ölfelds, der wie anscheinend alle | |
Männer der Stadt und des Weltkreises in Cleo Borden verschossen ist. | |
Borden verliert beim Würfelspiel gegen Gonzales und willigt ein, ihn zu | |
heiraten. Bei einem Viehdiebstahl wird Gonzales getötet und Borden erbt. | |
Halls Mae-West-Vehikel ist Teil der diesjährigen Retrospektive der | |
Berlinale, die sich den drei Schauspielerinnen Mae West, Rosalind Russell | |
und Carole Lombard widmet. Je neun Filme widmet die Retrospektive jeder der | |
drei Schauspielerinnen. | |
In der Grundstruktur von „Goin’ to Town“ gibt es einige Ähnlichkeiten zu | |
Mae Wests vorangegangenem Film „Belle of the Nineties“ von 1934 unter der | |
Regie von Leo McCarey, in dem sie eine Vaudeville-Sängerin am Ende des 19. | |
Jahrhunderts spielt. Nahezu alles an dem Film fand die Missbilligung der | |
Zensoren. Doch West hatte den Produzenten einen Auftritt des Jazz-Stars | |
Duke Ellington im Film abgetrotzt. Dieser begleitet Mae West bei einer | |
Liedeinlage mit seinem Orchester. So umspielte sie die Zensureingriffe. Das | |
gelang auch, weil Leo McCarey ein deutlich besserer Regisseur war als | |
Alexander Hall. | |
Nach „Belle of the Nineties“ wollte Mae West die Königin von Saba spielen, | |
ein Projekt, das Zensoren und Produzenten abwürgten. Stattdessen wurde ihr | |
„Now I’m a Lady“ angetragen, aus dem später durch eine Änderung des Tit… | |
„Goin’ to Town“ wurde. Die Geschichte des Films stammte von Marion Morgan, | |
Choreografin, Drehbuchautorin und Langzeitgeliebte der Regisseurin Dorothy | |
Arzner, die Lieder vom Duo Sammy Fain und Irving Kahal. | |
## Mae West sträubte sich | |
Gemäß den Regelungen des Hays Code, der Zensurregelungen, fuhrwerkten die | |
Zensoren von Produktionsbeginn an im Drehbuch herum, strichen unter anderem | |
alle Referenzen auf Prostitution. Doch Mae West sträubte sich nach Kräften | |
gegen die Eingriffe. Mit Erfolg. Auch wenn die offene Erotik der früheren | |
Filme etwas zurückgenommen wurde, blieben Wests souveräner Umgang mit | |
männlichen Avancen und ihre Schlagfertigkeit. | |
Das Verhältnis zwischen „Belle of the Nineties“ und „Goin’ to Town“ … | |
bezeichnend für die Spur der Verwüstung, die die christlich-konservative | |
Zensur im US-Kino der Zeit hinterließ und die Strategien, sich diesen | |
Eingriffen zu widersetzen. Die Filme mit West, Russell und Lombard | |
bedienten sich im Umgang mit dem reaktionären Rückschlag unterschiedlicher | |
Strategien. Die drei Schauspielerinnen verkörperten sehr unterschiedliche | |
Figuren, erfüllten unterschiedliche Funktionen in den Filmen. Die Filme mit | |
Mae West sind von Anfang bis Ende auf sie zugeschnitten, nicht selten | |
wirkte sie auch am Drehbuch mit, prägte den Film. Rosalind Russell hingegen | |
ist prägende Protagonistin, aber doch sehr viel stärker eingebunden in ein | |
Ensemble von Darsteller_innen. | |
In Michael Curtiz’ „Four’s a Crowd“ (1938) spielt Russell die Reporterin | |
Jean Christy, die verhindern will, dass die Zeitung, für die sie arbeitet, | |
von ihrem Eigentümer geschlossen wird. Der Film eröffnet mit einer Szene, | |
in der die vier Hauptfiguren untergehakt eine Straße entlanggehen. Russell | |
spielt in dem Film an der Seite von Olivia de Haviland, Errol Flynn und | |
dessen Sidekick Patric Knowles. | |
In Howard Hawks’ „His Girl Friday“ vom Jahr darauf spielt Russell erneut | |
eine Journalistin, die Starreporterin Hildy Johnson. Johnson will nach der | |
Scheidung von Chefredakteur Walter Burns erneut heiraten. Um den Plan zu | |
sabotieren, gibt Burns Johnson einen letzten Auftrag als Reporterin. | |
In Norman Taurogs „Design for Scandal“ spielt Russell die Richterin | |
Cornelia C. Porter, die von einem Journalisten verführt werden soll. Der | |
Auftraggeber des Journalisten hofft so, ein Druckmittel auf Porter zu | |
bekommen in einem Scheidungsprozess, in dem sie den Vorsitz hat. | |
West und Russell spielen Frauen, die sich den Erwartungen der Männerwelt um | |
sie herum in unterschiedlicher Weise entziehen – West dadurch, wie sie die | |
Aufdringlichkeiten managt, Russell durch professionelle Autorität. | |
Carole Lombards Rollen hingegen wirken gegenüber denen von Russell und West | |
deutlich konventioneller. In Howard Hawks’ „Twentieth Century“ von 1934 | |
emanzipiert sie sich aus der Vereinnahmung durch den Broadway-Impresario | |
Oscar Jaffe heraus. Jaffe entdeckt das Unterwäschemodel Mildred Plotka | |
(Carole Lombard) und macht aus ihr die Schauspielerin Lily Garland. Garland | |
bricht mit Jaffe, wird zum Star. Doch Jaffe holt sie wieder ein. | |
Mildred Plotka wirkt im Rückblick wie die düstere Vorlage von Lombards | |
Rolle als Maria Tura in Ernst Lubitschs „To Be or Not to Be“ von 1942. Mit | |
viel Witz bringt Tura wiederholt das aufgeblasene Ego ihres Mannes, des | |
Schauspielers Joseph Tura, zum Platzen. In William A. Wellmans „Nothing | |
Sacred“ spielt Lombard eine junge Frau vom Land aus Vermont, die | |
vermeintlich todkrank ist und die Aufmerksamkeit eines New Yorker | |
Journalisten erregt. Der Journalist holt sie in die Stadt, um ihre | |
Geschichte auszuschlachten. Aber sie ist nicht krank, die beiden heiraten. | |
Mehr als in den Filmen mit West und Russell prallen in jenen mit Lombard | |
auf recht sozialdemokratische Weise soziale Welten aufeinander. Ob sie May | |
Robson als obdachlose Trinkerin in „Lady by Choice“ im Zuge einer | |
Bewährungsstrafe als Wahlmutter annimmt oder ob sie als Tochter aus gutem | |
Haus in „My Man Godfrey“ den obdachlosen Godfrey heiratet – soziale | |
Gegensätze verschwinden in den Filmen mit Lombard durch schiere | |
Gutherzigkeit. | |
## Es werden neue Akzente gesetzt | |
Die Berlinale-Retrospektive hat sich in den letzten Jahren in der | |
Wiederaufführung von Filmklassikern behaglich eingerichtet. Mit der | |
Retrospektive zu West, Russell und Lombard, die eigentlich schon im | |
vergangenen Jahr hätte laufen sollen und pandemiebedingt verschoben wurde, | |
wird die Komfortzone nicht verlassen, und doch werden neue Akzente gesetzt. | |
Die Zusammenschau der Filme mit West, Russell und Lombard lädt ein zur | |
Auseinandersetzung mit den filmpolitischen Rahmenbedingungen, unter denen | |
das klassische Hollywoodkino der 1930er und 1940er Jahre entstand. An den | |
Entstehungsgeschichten der Filme lassen sich die umkämpften Freiräume und | |
Grenzen der Gestaltungsfreiheit im Studiosystem ablesen. Persönliche und | |
politische Allianzen werden erahnbar. | |
Ergänzt wird die Retrospektive durch die Podiumsdiskussion „What a Woman!“, | |
auf der die Filmkritikerin und freie Journalistin Sonja Hartl mit der | |
Kritikerinnenkollegin Bianca Jasmina Rauch und Annika Haupt von der | |
Deutschen Kinemathek über die drei Schauspielerinnen und ihre Umgangsweisen | |
mit der Filmindustrie und dem Studiosystem sprechen. | |
10 Feb 2022 | |
## AUTOREN | |
Fabian Tietke | |
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