# taz.de -- Retrospektive der Berlinale: Mehr wildes Denken | |
> Die Retrospektive versammelt unter dem Titel „Das andere Kino“ mutiges | |
> alternatives Filmemachen aus den Beständen der Deutschen Kinemathek. | |
Bild: „Engel aus Eisen“ (1980) von Thomas Brasch | |
Sparen hat seine guten Seiten, diese Binsenwahrheit nutzt die Retrospektive | |
der Berlinale mit kreativem Witz. Weniger Programmslots, ein geringeres | |
Budget und rigorose Planungsvorgaben lenkten den Blick des Auswahlteams der | |
Deutschen Kinemathek auf Schätze aus dem eigenen Haus. | |
Zuständig für das Retrospektive-Programm und die Berlinale Classics ist das | |
größte der deutschen Filmarchive schon lange. Es holte vergessene Klassiker | |
auf die Leinwand zurück, feierte Stars, 2022 beispielsweise die [1][„No | |
Angels“ Mae West, Rosalind Russell und Carole Lombard], oder widmete sich | |
einem Genre wie im vergangenen Jahr mit einer Reihe [2][unkonventioneller | |
Coming-of-Age-Filme]. | |
In diesem Jahr stellen der künstlerische Leiter der Kinemathek, Rainer | |
Rother, und die Programmkoordinatorin Annika Haupts 23 Filme unter dem | |
Titel „Das andere Kino“ vor. Zwischen dem Jahr des Mauerbaus 1961 und dem | |
Umbruch nach der Wiedervereinigung um 1992 entstanden, wurden sie alle in | |
den vergangenen Jahren restauriert und digitalisiert. | |
## Die „Kinoschönheit“ analoger Geschichten | |
Drehte sich die [3][Retrospektive 2016 um Klassiker, die Mitte der 1960er | |
Jahre für den Aufbruch des „jungen deutschen Films“] in der Bundesrepublik | |
standen, in der DDR dagegen für eine beispiellose Verbotswelle zulasten | |
zeitkritischer Filme, knüpft das aktuelle Programm an diese Filmgeschichte | |
an, stellt aber das überkommene Ranking infrage. | |
Mehr Werke von Regisseurinnen, mehr visuelle Experimentierfreude gegen die | |
ausgetretenen Spuren konventioneller Dramaturgie, mehr wildes Denken und | |
mehr Filme, die es nur ins damals wagemutige Fernsehen oder in Festivals | |
schafften, aber selten auf große Leinwände. In Zeiten wachsenden Serien- | |
und Social-Media-Konsums spekuliert die Retro darauf, wieder mehr | |
Youngsters für die „Kinoschönheit“ – so der Essayfilmer Harun Farocki �… | |
analoger Geschichten und Bilderwelten zu interessieren. Nicht zuletzt, | |
erzählt Annika Haupts der taz, schlugen sich Programmtipps der jungen | |
FilmrestauratorInnen der Kinemathek im Programm nieder. | |
„Das andere Kino“ schaut unter deutsche Dächer und führt in | |
(Stadt-)Landschaften, die ihre eigene Geschichte erzählen. „Zwei unter | |
Millionen“ (Victor Vicas/Wieland Liebske,1961) und „Engel aus Eisen“ | |
(Thomas Brasch, 1980) rufen zum Beispiel die noch offene Sektorengrenze | |
zwischen Ost- und Westberlin in Erinnerung – der ältere Film als | |
unterhaltsame Liebesgeschichte zwischen einer Flüchtenden, die an der | |
Oberbaumbrücke „rübermacht“, und ihrem Helfer, der tags im Osten malocht | |
und abends an einem Kreuzberger Tresen dazuverdient, seinen Traum von einer | |
eigenen Kneipe im kapitalistischen Westberlin jedoch vorerst nicht | |
wahrmachen kann. | |
Zwanzig Jahre später erzählt „Engel aus Eisen“ eine in bestechendem | |
Schwarzweiß gedrehte Parabel auf die Faszination der Gewalt die Geschichte | |
der Gladow-Bande, die während der Luftbrücke 1948 die wechselseitige | |
Blockade der Berliner Polizei in Ost und West für ihre Raubzüge nutzte. | |
Viele Filme flirten mit Vorbildern. Hansjürgen Pohland lässt „Tobby“ | |
(1961), eine Berliner Jazzgröße, nach einem verqueren One-Night-Stand à la | |
„À bout de souffle“ von Godard mit dem Rad an Westberliner Brachen vorbei | |
nach Hause fahren. Elfi Mikeschs Spielfilmdebüt „Macumba“ (1982) entdeckt | |
expressionistische Licht- und Schatteninszenierungen für sich, wenn ein | |
fiktiver, der Schreibmaschine von Magdalena Montezuma entsprungener | |
Detektiv der skurrilen Trance einer Berliner Boheme-WG auf die Spur kommen | |
will und am Ende im Schutt des abgebrochenen Wohnhauses verschwindet. | |
## Böser Traum zurück in DDR-Realitäten | |
Wieder anders das Drifting in Peter Welz’ Debüt „Banale Tage“ (1992). Se… | |
rotziger Trip zurück in DDR-Realitäten erzählt wie von Frank Casdorf | |
inspiriert von zwei rebellischen Freunden aus antagonistischen Milieus. Der | |
eine, Sohn eines den Frust wegsaufenden Dramaturgen, bekommt Ärger, als man | |
verbotene Bücher bei ihm findet. Der andere, ein Werkzeugmacherlehrling in | |
forciertem Intelligenzler-Look, schreibt dadaistische Flugblätter, besetzt | |
die leere Wohnung von Ausgereisten und landet im Knast. Beide können mit | |
„Feten und beten“ im Schutz der Kirche so wenig anfangen wie mit dem | |
Zynismus der Erwachsenen. Wenn am Ende Episoden des Films auf einem | |
Bildschirm im Theater laufen, könnte alles ein böser Traum gewesen sein. | |
Ein absolut sehenswertes Melodram über das Lebensgefühl am Ende der DDR ist | |
Helke Misselwitz’ Spielfilmdebüt „Herzsprung“ (1992). Mit geringsten | |
Mitteln realisiert, lebt es von seinem klaren Blick auf die entfesselte | |
Frustration und den Naziterror der Wiedervereinigungsphase. Die Frauen des | |
Dorfs verlieren ihre Arbeit beim Gänserupfen. Johannas Mann, ein zorniger | |
Trinker, tötet die Kühe im Stall und sich selbst, bleibt ihr jedoch als | |
Inbild eines werbenden Dörflers und später als brutaler Nazi (Doppelrolle: | |
Ben Becker) auf den Fersen. | |
Ein fremder Schwarzer taucht auf, ein Vagabund, der romantische Liebe ohne | |
Bindung verspricht und weiterzieht. Als Johanna den Geliebten in einem | |
Imbissstand an der Autobahn entdeckt und sich ihm zuwendet, eskaliert die | |
Gewalt gegen den „Ausländer“ und sie. | |
Ausländerfeindlichkeit gegenüber der türkischen Community waren früh schon | |
Themen im bundesrepublikanischen Kino. In „Shirins Hochzeit“ (1975) | |
identifiziert sich die Regisseurin Helma Sanders-Brahms eng mit ihrer | |
Protagonistin. Unglücklich verliebt in ihrem anatolischen Dorf, reist sie | |
nach Köln, um den Geliebten zu finden. Sie lernt harte Fabrikarbeit, | |
unwürdige Lebensumstände und den sozialen Druck kennen, unter dem sie ihr | |
tradiertes Frauenbild aufgeben soll. Shirins Niedergang beginnt mit Alkohol | |
und endet in der Prostitution, der Geliebte begegnet ihr als Freier. Im | |
Off-Kommentar leiht die Regisseurin ihre Stimme Shirins innerem Aufruhr, | |
weckt damit jedoch auch den Eindruck, sie als Objekt ihrer Sozialkritik | |
auszustellen. | |
## Filme übers Filmemachen | |
Ein anderes Spiel mit Vorbildern und Genreanleihen gelingt Pia Frankenberg | |
in der selbstironischen Stadtneurotiker-Komödie „Nicht nichts ohne Dich“ | |
(1985). Sie verheddert sich als vom Zeitgeist und frostigen Winter | |
überforderte Filmemacherin in einem absurden Beziehungsclinch, hält in | |
abgrundtief ernsten Gesprächen über feministische Ästhetik mit und staunt | |
über Alfred Edels gekonnt verdrehte Jubelthesen zum frisch eingeführten | |
Privatfernsehen. | |
Ähnlich souverän lästert Bettina Flitner aka Wilma Wenders in dem Kurzfilm | |
„Ich“ (1988) über die Genieattitüden männlicher Autorenfilmer. | |
Das Filmemachen ist ein wiederkehrendes Thema der Retrospektive. In Ismet | |
Elçis „Kismet, Kismet“ (1987), einem vitalen Undergroundstück, scheitert | |
ein junger Berliner Kurde mit dem Versuch, seine Außenseitergeschichte zu | |
drehen, weil ihm ein schludriger Produzent das mühsam ersparte Bargeld | |
dafür stiehlt. | |
Zehn Jahre zuvor setzte sich Hellmuth Costard in „Der kleine Godard“ mit | |
den Untiefen des Fördersystems auseinander. Im Mittelpunkt Costards Plan, | |
sein Super-8-Equipment technisch aufzurüsten, um den natürlichen Lauf der | |
Ereignisse optisch-akustisch einfangen zu können. Jean-Luc Godard kommt | |
tatsächlich zu Vorgesprächen nach Hamburg und zeigt sich bereit, vor | |
Costards Kamera politische Filme zu machen, also zu räsonieren, ob und wie | |
autonomes Filmemachen „heute“ möglich sei. Anträge werden gestellt, | |
Konferenzen abgehalten, höfliche Floskeln getauscht, aber die Förderbehörde | |
sagt ab. | |
## Feministische Selbstermächtigung | |
Leuchtendes 35-mm-Kino und anspruchsvolle Gespräche zeichnen die Münchener | |
Filme aus, zum Beispiel Haro Senfts „Fegefeuer“ (1971), die Geschichte | |
einer Verstrickung in politische Gewalt. Ingemo Engström setzt sich In | |
„Dark Spring“ (1970) mit den Liebeserfahrungen dreier theoretisch | |
versierter Freundinnen auseinander. Es geht um zerbrochene Beziehungen und | |
ihre Ungeduld mit patriarchaler Ignoranz, am Ende als kämpferische Geste | |
ein Zitat aus Valerie Solanas radikal-feministischem Manifest SCUM. | |
Helke Sander treibt die feministische Selbstermächtigung weiter, wenn sie | |
in „Die Deutschen und ihre Männer“ (1987) in die bräsige Hauptstadt Bonn | |
aufbricht und ihr Alter Ego im Zentrum der Macht einen Mann suchen lässt, | |
„der zuhört“ und sich des Gewaltpotenzials seines Geschlechts bewusst ist. | |
Keiner lässt die Fragen an sich herankommen, ist das sarkastische Resümee | |
der Reise. | |
Einen anderen Horizont als die meisten kritischen Gesellschaftsbilder der | |
Retrospektive spannt Eva Hillers filmischer Essay „Unsichtbare Tage oder | |
Die Legende von den weißen Krokodilen“ (1991) auf. Sie erkundet mit der | |
bravourösen Kameraarbeit von Thomas Mauch jene nächtlichen Zonen der Stadt | |
Frankfurt, in der Post sortiert, Abwasser entmüllt, Flugzeuge in den Himmel | |
geschickt werden und Todkranke an piepsenden Maschinen hängen. Es sind | |
nicht die sprichwörtlich im Untergrund der Städte hausenden | |
Albino-Krokodile, die die Dunkelheit unheimlich und furchterregend machen, | |
sondern der automatische Lauf der Maschinen im künstlichen Licht, die | |
„keinen Betrachter mehr brauchen“. | |
Das künstliche Licht im Kino braucht Publikum. Viele Filme der | |
Retrospektive laden dazu ein, Parallelen zur Gegenwart zu ziehen. | |
16 Feb 2024 | |
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## AUTOREN | |
Claudia Lenssen | |
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