# taz.de -- Die Retrospektive der Berlinale: Rebellion gegen das Passendmachen | |
> Filmprominenz wählte die Filme aus: Die Retrospektive der Berlinale | |
> blickt auf Jugend und Heranwachsen. Sie besticht durch Vielstimmigkeit. | |
Bild: Doch, doch, das ist Christina Ricci in „Now and Then“ (1995) | |
„Es führt kein Weg zurück“, so fasst der Titel von Thomas Wolfes | |
nachgelassenem Roman die Unmöglichkeit zusammen, das wiederzufinden, was | |
man mit der Jugend verloren habe. Feierlich zitiert am Anfang des | |
Coming-of-Age-Films „Now and Then“ die Stimme von Demi Moore diesen | |
Gedanken, während ihre Figur, die Science-Fiction-Autorin Samantha, sich | |
auf dem Weg in ihre Heimatstadt Shelby, Indiana befindet. | |
Der gute, alte Thomas Wolfe habe gut reden, setzt sie hinzu, er sei eben | |
nie ein kleines Mädchen gewesen, das mit zwölf Jahren mit seinen drei | |
besten Freundinnen den Freundschaftspakt geschlossen habe, immer | |
füreinander da zu sein. In der Fallhöhe von philosophischem Männer-Pathos | |
und Kleinmädchenritual liegt das, was das Genre des Coming-of-Age-Films so | |
dauerhaft attraktiv macht. | |
Der Reiz der diesjährigen Berlinale-Retrospektive „Young at Heart – Coming | |
of Age at the Movies“ zeigt sich schon darin, dass ein Film wie „Now and | |
Then“ aus dem Jahr 1995 zum Programm gehört. Das Kinoregiedebüt von Lesli | |
Linka Glatter, die davor und danach fast ausschließlich fürs Fernsehen | |
(„Mad Men“, „Homeland“) drehte, kam seinerzeit zwar beim amerikanischen | |
Publikum gut an, wurde aber von der Filmkritik eher abschätzig behandelt. | |
Was nicht nur daran liegt, dass die Erlebniswelt von 12-jährigen Mädchen | |
selten die Würden ernster rezensorischer Betrachtung erfährt, sondern | |
durchaus mit der an der Oberfläche kitschig wirkenden Formelhaftigkeit des | |
Films selbst. | |
Da kommen am Anfang die vier inzwischen über 30-jährigen Frauen in ihrer | |
Heimatstadt zusammen, verkörpert von keinen geringeren als Rosie O’Donnell, | |
Rita Wilson, Melanie Griffith und Demi Moore. Ihr Zusammensein bildet aber | |
lediglich den Rahmen für die Erzählung jenes „entscheidenden Sommers“ des | |
Jahres 1970, der mit erstem Kuss, Eltern, die sich scheiden lassen, und der | |
Entdeckung, dass Erwachsene nicht immer recht haben, eine gängige | |
To-do-Liste des Coming-of-Age abarbeitet. | |
Was den Film zum raren Phänomen eines Frauen-Kultfilms machte, ist ein | |
gewisses Etwas, für das die etablierte Kritik oft blind scheint: Dinge wie | |
die unnachahmliche Coolness, mit der die vier 12-Jährigen (verkörpert von | |
den herausragenden Talenten Thora Birch, Christina Ricci, Ashleigh Aston | |
Moore und Gaby Hoffmann) zusammen mit einem durchreisenden Vietnamveteranen | |
(Brendan Fraser) das Zigarettenrauchen markieren, vor allem aber der Raum, | |
der dem Eigensinn der Mädchen gelassen wird, sei es ihrer Emotionalität, | |
ihrer Lust am Grusel oder auch ihrer Fähigkeit, füreinander Empathie zu | |
zeigen. | |
## Persönliche Favoriten | |
„Now and Then“ ist auf Vorschlag der diesjährigen Jury-Vorsitzenden der | |
Berlinale, [1][Kristen Stewart], im Programm – eine „coolere“ Patin wäre | |
kaum vorstellbar. Denn das Konzept der Retrospektive sah vor, eine Reihe | |
namhafter Filmschaffender zu bitten, ihren persönlichen Favoriten zum Thema | |
auszuwählen. Dabei sind neben Stewart Veteranen wie Martin Scorsese | |
(Bertoluccis „Prima della rivoluzione“), Wim Wenders (Nicholas Ray, „Rebel | |
Without a Cause“) und Pedro Almodóvar (Elia Kazan, „Splendor in the | |
Grass“), Berlinale-Gewinner aus den letzten Jahren wie Mohammad Rasoulof | |
(Werner Herzogs „Jeder für sich und Gott gegen alle“), Nadav Lapid | |
(Jean-Claude Brisseau, „De bruit et de fureur“) und Carla Simón (Víctor | |
Erice, „The Spirit of the Beehive“). | |
Dabei ist auch eine erfreulich hohe Anzahl von internationalen | |
Regisseurinnen wie Alice Diop (Maurice Pialat, „Á nos amours“), Aparna Sen | |
(Satyajit Ray, „The Unvanquished“), Nadine Labaki (John Hughes, „Ferris | |
Bueller’s Day off“), Nora Fingscheidt (Harold Ramis, „Groundhog Day“), | |
Karoline Herfurth (P. J. Hogan, „Muriel’s Wedding“) und noch einige mehr. | |
Der Vorteil dieser Herangehensweise liegt auf der Hand: Selten gab es so | |
viel spontane Vielfalt in einer Retrospektive, die neben den üblichen | |
Verdächtigen aus den USA und Frankreich auch Filme aus Japan, Indien, Iran | |
und Senegal mit einschließt. Die erfreuliche Diversität mag auf Kosten der | |
thematischen Stringenz gehen: So kindisch sich Bill Murray als | |
Wetteransager in „Groundhog Day“ zu Beginn auch anstellt – ist Harald | |
Ramis’ Kultkomödie übers Wiederholen wirklich ein „Coming-of-Age“-Film? | |
Die weibliche Revolte, die die tschechische Regisseurin Věra Chytilová | |
berückend anarchistisch in „Sedmikrásky“ von 1966 in Szene setzt, handelt | |
sogar tatsächlich eher von einem Kindlich- als von einem Erwachsenwerden. | |
Und in Bertoluccis „Prima delle rivoluzione“ sind die jungen Männer im | |
Zentrum eigentlich nie wirklich jung gewesen. Im Parma der frühen 1960er | |
Jahre gibt es keine „jugendlichen Lebenswelten“, wie man sie aus dem | |
amerikanischen Kino von „Rebel Without a Cause“ und seinen wiederkehrenden | |
nostalgischen Neubelebungen wie „The Last Picture Show“ (Peter Bogdanovich, | |
1971) oder „Rumble Fish“ (Francis Ford Coppola, 1983) so kennt. | |
So könnte man die Liste der Filme durchgehen und einen Widerspruch nach dem | |
anderen entdecken. Aber genau dann sieht man sich darauf gestoßen, dass in | |
diesen Widersprüchen das Thema sehr gut gespiegelt ist. Schließlich bildet | |
der Widerstand gegen die Anpassung und das Passendmachen ein Fundament des | |
Coming-of-Age. | |
Man kann der „Young at Heart“-Retrospektive gerade deshalb etwas | |
abgewinnen, weil sich die Klischees des Genres darin so wenig häufen. | |
Sicher, James Dean kommt vor, die 1960er Jahre nehmen einen gewissen | |
Schwerpunkt ein (Nagisa Ōshima, „Cruel Story of Youth“ 1960) genauso wie | |
erste Liebe und gelegentlich ein Fatalismus a la Wedekinds | |
„Frühlingserwachen“ (Sofia Coppolas „Virgin Suicides“). | |
Aber es gibt auch viele Filme, auf die man selbst nicht unbedingt gekommen | |
wäre, während die „Lieblingsfilmauswahl“ der Prominenten garantiert, dass | |
es immer noch einen zusätzlichen Grund gibt, einen bestimmten Film zu | |
sehen. Nicht nur weil er das Thema repräsentiert, sondern weil er es auf | |
eine Weise tut, die jemand wie Wes Anderson oder Tilda Swinton im | |
Gedächtnis blieb. | |
## Wie wichtig das erste Mal im Kino ist | |
Wie überhaupt die Retrospektive sowohl in Inhalt als auch in der | |
Auswahlform zeigt, wie wichtig im Kino das erste Mal ist. Im direkten Sinn | |
all der ersten Erfahrungen, von denen Coming-of-Age-Filme so erzählen, von | |
den ersten Küssen und ersten Enttäuschungen genauso wie von den schwerer | |
einzuordnenden Erlebnissen, wie sie zum Beispiel die Mädchen in „Now and | |
Then“ machen: Eine muss etwa erfahren, wie qualvoll der Autounfall war, an | |
dem ihre Mutter starb, von der der Vater bislang erzählte, sie sei ohne | |
Leiden in den Himmel aufgestiegen. | |
Das erste Mal hat aber auch für das Filmegucken selbst eine besondere | |
Bedeutung. Mehr noch als in anderen Sparten der Popkultur können sich Filme | |
beim ersten Schauen als emotionales Erlebnis ins Gedächtnis graben, das | |
sich vom reinen Inhalt emanzipiert, ja manchmal so stark und eigen ist, | |
dass man fürchtet, es sich durch ein zweites Schauen zu „verderben“. | |
Man müsste zum Beispiel „Ferris Bueller’s Day Off“ auf die Probe stellen: | |
Wiederholt sich der Rausch, in den einen Mathew Brodericks Auftritt auf der | |
Steuben Day-Parade in Chicago versetzen kann? Zuerst die Überraschung mit | |
Bert Kaempferts „Dankeschön“ und dann die Montage von Tanzenden zum | |
Beatles-Song „Twist and Shout“ – eine Szene, die so mitreißt, dass man | |
vergisst, ob man es noch mit einem Abschied von der Jugend oder schon einem | |
Feiern der Freiheiten des Erwachsenseins zu tun hat. | |
16 Feb 2023 | |
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## AUTOREN | |
Barbara Schweizerhof | |
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