# taz.de -- Berlinale Retrospektive: Flirt mit dem Genrekino | |
> „Wild, schräg, blutig“: Die Retrospektive widmet sich deutsch-deutschen | |
> Filmen der 1970er. Lust am Trash überwiegt, Werke von Regisseurinnen | |
> fehlen. | |
Bild: Die Regenschirme von Cherbourg? Nein, es ist „Nicht schummeln, Liebling… | |
Wie eine Handvoll Filmemacher der Bundesrepublik vor Jahrzehnten versuchte, | |
das Kino neu zu erfinden, ist eine sicher noch nicht auserzählte | |
Geschichte. Auch aus der Kinowirklichkeit des Defa-Studios der DDR gibt es | |
noch viel wiederzuentdecken. | |
Die Retrospektive der Berlinale lenkte zwar schon mehrmals die Neugier auf | |
interessante Rückblicke in die Parallelen und Unterschiede beider Welten, | |
aber für das 75. Jubiläum des im Sommer 1951 im Steglitzer Titania-Palast | |
gegründeten Filmfestivals dachte sich das Team der Kinemathek einen | |
Seiteneinstieg aus. | |
Nicht die filmhistorischen Leuchttürme stehen in diesem Jahr im | |
Mittelpunkt, sondern Filme, die unverhohlen mit den kommerziellen Genres | |
und Stereotypen ihrer Zeit spielen. „Wild, schräg, blutig“ geht es im | |
diesjährigen Programm zu. Kurz: alles andere als das ambitionierte | |
bundesdeutsche Autorenkino und die politisch vorzeigbare DDR-Filmkunst sind | |
zu sehen, sondern ost- und westdeutsche Flirts mit eingeschliffenen | |
Genrestücken fürs große Publikum oder aber Kultfilme für notorische Fans. | |
## Aus Zwang zum Sparen | |
Die Auswahl war groß, erzählt Annika Haupts, die mit Rainer Rother, dem | |
Leiter der Kinemathek, das Programm verantwortet. Auch unter dem Zwang zu | |
Budgeteinsparungen entstand nach intensiven Recherchen in diesem Jahr eine | |
Programmreihe aus nur fünfzehn Beispielen zum Kino der 1970er Jahre in Ost | |
und West. Adressiert an ein spontan neugieriges jüngeres Publikum | |
konzentriert es sich, nicht zuletzt wegen häufig noch nicht restaurierter | |
Filmfassungen, auf Komödien und Thriller. | |
Merkwürdig, dass das Defa-Studio Babelsberg ausschließlich mit fünf | |
knalligen Komödien vertreten ist, während die zehn westdeutschen Filme | |
überwiegend drastisch und gewalttätig von Gangster-, [1][Rocker- und | |
Desperado-Stoffen] fasziniert sind und nicht selten mit viel Blut, Schweiß | |
und Brutalität ihre Misogynie ausstellen oder aber in Vampir-Geschichten | |
von angeschlagenen männlichen Selbstbildern erzählen. | |
Übrigens stammt wie zu erwarten kein Film des Programms von einer | |
Regisseurin, während alle Filme Paradebeispiele für den von Laura Mulvey in | |
den 1970ern dingfest gemachten „male gaze“ darstellen, der beschreibt, wie | |
die Kamera stereotype Muster des männlichen Blicks auf Haare, Beine, Busen, | |
Po simuliert. Insofern aus dem Abstand der Jahre imprägniert, lohnt sich | |
der Rückblick in die offenen und verborgenen Botschaften des | |
Unterhaltungsgeschäfts vor rund fünfzig Jahren. | |
## Gelegentlich biederer Klamauk | |
Die [2][Defa-Komödien] des Programms versuchen etwas anderes: Sie | |
demonstrieren einhellig die kulturpolitisch geförderte Idee des | |
Geschlechterkampfs auf Augenhöhe, sind aber trotz erwartbarer | |
Skriptkonstruktionen purer Spaß, wenn man Sinn für gelegentlich biederen | |
Klamauk, überdrehte Choreografien und Witze voller Seitenhiebe auf das | |
gesellschaftliche Betriebssystem der DDR mitbringt. | |
So zeigt eine frisch delegierte Fachschulleiterin in „Nicht schummeln, | |
Liebling!“ (Regie: Joachim Hasler, 1973) dem fußballbegeisterten | |
Bürgermeister eines lauschigen Harz-Städtchens, wo der Hammer hängt, wenn | |
sie gegen seine Schummeleien zugunsten der örtlichen Fußballmannschaft eine | |
weibliche Gegenmannschaft auf die Beine stellt, die die Spielregeln nicht | |
nur im Gemeinderat außer Kraft setzt – Happy-Ending inbegriffen. | |
„Nelken in Aspik“ (Günter Reisch, 1976), die ausgefeilteste Klamotte des | |
Programms, reizt sämtliche Ressourcen der Produktionsgruppe Johannisthal in | |
Sachen Szenenbild, Kostüm, Trick und Außendrehs mit einer Überfülle an | |
scharfzüngigen Dialogen und Witzen über das Streben, endlich Erfolge im | |
DDR-Außenhandel einzuheimsen. Der Film macht Armin Mueller-Stahl als | |
Jacques-Tati-ähnlichen Tolpatsch zum Leiter des „Hauses für Werbung“ und | |
delegiert ihn, obwohl er zwei Zähne verlor und seither schweigt, zu einer | |
Computermesse nach San Francisco, wo er aufgrund von vertauschtem Gepäck | |
allein mit einem digitalisierten Pittiplatsch Geschäfte anschiebt. Ein | |
anderes Highlight gehobenen Klamauks ist Horst Bonnets Verfilmung von | |
Jacques Offenbachs Seitensprung-Operette „Orpheus in der Unterwelt“ (1973), | |
ein anarchischer Rausch in Rot-Schwarz voller Dialogbonmots, die den | |
senilen Götterhimmel als Spiegel der DDR-Hierarchien veralbern. | |
## Schrumpfgermanen in Damen-Handtaschen | |
Wie anders die Münchener Undergroundkomödie „Männer sind zum Lieben da“ | |
(Eckhart Schmidt, 1970). In Schwarz-Weiß entsteigen da ein paar Amazonen | |
mit modisch langen Mähnen und Miniröcken einem Teich und gehen auf die Jagd | |
nach Sexpartnern, nur um sie danach kleingeschrumpft in ihren Handtaschen | |
verschwinden zu lassen. | |
Weibliche Emanzipation hat den Haken, sagt uns Eckhart Schmidts Phantasie, | |
dass es in der Unterwelt an Spielzeug oder an Nachwuchs mangelt, für den | |
die Männer nach ihrer Rekultivierung sorgen sollen. Was aber passiert, wenn | |
sich eine schüchterne Amazone in einen anvisierten Sexpartner verliebt? Das | |
bleibt bis zum Schluss des Films nach vielen kurzen Szenen im Stil von | |
zeitgenössischen Softpornos ein Männertraum. | |
Unter den westdeutschen Filmen, die deutlich an den Hardboiled-Kerlen | |
US-amerikanischer Exploitation-Movies orientiert sind oder auch auf den | |
bizarren Pop-Mythos eines RAF-Desperados wie Andreas Baader anspielen, ist | |
die Gier nach Geld, Macht und großen Autos Motor der Geschichte. In | |
„Blutiger Freitag“ (Rolf Olsen, 1972) schiebt Raimund Harmstorf als | |
entflohener Häftling mit zwei Komplizen die Erpressung von mehreren | |
Millionen an, indem die Gruppe Geiseln in einer Bank nimmt. | |
## Forderung nach Todesstrafe | |
Angelehnt an einen authentischen Raubüberfall in München, baut der Film | |
erstaunlich viele Dialoge über die miese Angestelltenzukunft der Jüngeren, | |
den Ausländerhass der Münchener Vorstadtbürger und ihre Forderung nach der | |
Todesstrafe ein. Kamerablicke auf Harmstorfs enge Lederhose und seine | |
unverhohlenen Blicke auf eine Geisel kündigen eine brutale | |
Vergewaltigungsszene an, die kurze Porno-Flashes mit Zerstückelungsszenen | |
aus dem Schlachthaus unterlegt. | |
Olsens Film zeigt durch den puren Overkill, der darauf folgt, eine viele | |
der wilden, schrägen, blutigen Filme prägende Mischung aus Zynismus und | |
Absage an solche Männlichkeitsbilder. | |
Gegenbild ist ein Lkw-Fahrer (Wolf Roth) in Rainer Erlers Science-Thriller | |
„Fleisch“(1979). Ein frisch verheiratetes deutsches Pärchen in den USA wird | |
während seiner Hochzeitsreise von einem dubiosen Ambulanzauto angegriffen. | |
Der Trucker, ein einsamer Pole auf Route-66-Tour, hilft der verzweifelten | |
Braut (Jutta Speidel), das Kidnapping ihres Mannes nachzuverfolgen. | |
## Action Showdown | |
Der spannende Thriller greift die Debatte um Organverpflanzungen auf, | |
liefert zwar im Lauf der Spurensuche auch Argumente für die Befürwortung, | |
bleibt aber zielsicher dabei, den kriminellen Menschenhandel mit betäubten | |
und geknidnappten „Organspendern“ im rasanten Action-Showdown der Braut | |
Alice und einer Ärztin im Kampf gegen die Gangster aufzuklären. | |
„Einer von uns beiden“, [3][Wolfgang Petersens] Debüt 1974, greift einen | |
heute anschlussfähigen Fall eines Dissertationsplagiats auf, der in einem | |
verbissenen Zweikampf zwischen einem um seinen Ruf fürchtenden | |
Soziologieprofessor und seinem verkrachten Ex-Studenten eskaliert. | |
Das heimtückische Duell, mit Jürgen Prochnow als erpresserischer Träumer | |
vom besseren Leben und Klaus Schwarzkopf als Intellektueller voll | |
mörderischer Energie, führt auch in eine Westberliner Stadtlandschaft der | |
1970er zurück, die mit Bildern der monströsen Abrisswut in Kreuzberg und | |
den Villen in Dahlem ein Spiegelbild der Klassengesellschaft abgibt. | |
Drei weitere Filme der Retrospektive, alle Varianten des Vampirgenres, | |
reizen ebenfalls zu Vergleichen mit aktuellen Serien und Kinofilmen. | |
„Jonathan“ (Hans W. Geißendörfer, 1970) erzählt in der fulminanten | |
Kameraführung von Robbie Müller von einem Dorf, das von einem allmächtig | |
scheinenden vampiristischen Grafen und seiner Entourage terrorisiert wird, | |
bis die bäuerliche Bevölkerung mit einer Gruppe Studenten und ihrem | |
aufklärerischen Professor die blutige Zerstörung dieses Systems erreicht. | |
Zu seiner Entstehungszeit wurde der Film als Parabel auf den | |
gesellschaftlichen Umbruch nach 1968 verstanden. Wie er heute wirken | |
könnte, gibt interessanten Gesprächsstoff. | |
13 Feb 2025 | |
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## AUTOREN | |
Claudia Lenssen | |
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