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# taz.de -- Film „Der Helsinki Effekt“: Und Breschnew glaubte sich als schl…
> Arthur Francks Film „Der Helsinki Effekt“ ist ein Flashback ins Jahr
> 1975, als sich auf einer Konferenz die politische Weltkarte veränderte.
Bild: Oben ohne wäre heute nicht mehr erwünscht: Leonid Breschnew am Telefon …
Von
Am ersten August 1975 ging in Helsinki die Konferenz für Sicherheit und
Zusammenarbeit in Europa zu Ende, eine mehrjährige Serie internationaler
Verhandlungen zwischen sieben Staaten des Warschauer Pakts, dreizehn
neutralen und fünfzehn Nato-Staaten mit einem für alle Seiten positiven
Ergebnis.
Damals ein Ereignis, das Fernsehkameras in alle Welt übertrugen und in
zahllosen Kommentaren als Beginn eines neuen Zeitalters nach dem Kalten
Krieg feierten, ist das bildstarke Unterzeichnungsritual der Schlussakte
heute fast vergessen.
Kaum jemand kann das Kürzel KSZE entschlüsseln, nur die Älteren mit
Lebenserfahrung in der DDR, in Polen, der damaligen Tschechoslowakei und
anderen Ländern des einstigen Ostblocks bekommen leuchtende Augen, wenn die
mit dem Akronym KSZE gemeinte Konferenz, insbesondere ihre mit „Korb III“
betitelten Verhandlungsergebnisse erwähnt werden.
## 35 Staatslenker unterzeichneten
Der finnische Dokumentarfilmer Arthur Franck, Jahrgang 1980, kennt seit
Kindertagen die Finlandiahalle in Helsinki, das marmorne, von dem
[1][Stararchitekten Alvar Aalto entworfene] Kongresszentrum, wo die
schwarzen Limousinen der fünfunddreißig Staatslenker (ausschließlich
Männer) zum demonstrativen Unterzeichnungsakt vorfuhren, aber auch ihm war
neu, was diesem Event vorausging.
Von wem war es initiiert worden? Wie lief das aufwendige Unternehmen ab,
bis es zur Unterzeichnung kam? Was verbirgt sich hinter dem auftrumpfenden
Flirt von Leonid Iljitsch Breschnew mit den Pressevertretern? War das
augenscheinliche Glücksgefühl des damaligen Generalsekretärs der KPdSU ein
Zeichen dafür, dass er sich als Gewinner fühlte?
Nicht zuletzt: Waren die Beschlüsse verbindlich, galten sie als
verlässliche Absprache in einer seither ins Wanken geratenen Welt
regelbasierter Abkommen? Und was entwickelte sich danach aus der
Unterzeichnung der KSZE-Schlussakte?
## Konferenz über Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa
Arthur Francks Film „Der Helsinki Effekt“ setzt sehr persönlich bei seiner
Neugier auf diesen besonderen historischen Moment der Verständigung
zwischen den politischen Blöcken an. Nach jahrelangen Recherchen ist ihm
ein Zauberstück aus [2][Found-Footage-Material] gelungen, das er mit einem
launigen Voice-over-Kommentar (in der deutschen Fassung von Bjarne Mädel
gesprochen) und einer eigens komponierten Musik in zurückhaltendem
70er-Jahre-Sound zu einer unterhaltsamen zeithistorischen Rekonstruktion
verdichtet.
Aus der Sicht des spottlustig staunenden Nachgeborenen rekapituliert der
Regisseur die Story und seine persönliche Sicht in einer flüssigen Montage
von zwölf Kapiteln. „Der Helsinki Effekt“ lebt von unterschiedlichsten
Dokumenten, darunter Politiker-Statements, Zitate aus bislang nicht
veröffentlichten Protokollen und kuriosen Medienschnipseln, die nebenbei in
die Welt der blockierten Telefonkabinen und heiß laufenden Telex-Maschinen
zurückblenden.
Mithilfe von KI nutzt Arthur Franck einen besonderen Trick. Im Film
imitiert sie die Stimmen von Leonid Breschnew und seinem Gegenspieler Henry
Kissinger, seinerzeit Außenminister der USA, und bringt auf diese Weise
bislang unveröffentlichte Hintergrundprotokolle zum Sprechen. Henry
Kissinger erklärt da zum Beispiel in Bemerkungen gegenüber Präsident
Richard Nixon (der 1974 wegen des Watergate-Skandals zurücktreten musste)
das Nato-Bündnis für erledigt, Leonid Breschnew glaubt sich vor den
Mitgliedern des Politbüro als schlauer Fuchs, der den Westen in der Tasche
habe.
Das Plakat des Films zeigt einen lässig entspannten Generalsekretär der
UdSSR in Badehose, der offensichtlich eine Sauna-Pause zum Telefonieren
nutzt. Finnische Wohlfühlkultur war jedoch nicht das entscheidende Moment
für Breschnews Drängen, die von ihm vorgebrachte Idee einer internationalen
Konferenz im neutralen Nachbarland zu realisieren.
## Tausend Kilometer gemeinsame Grenze
Urho Kekkonen („unser Gott“) setzte alles daran, auf Breschnews Wunsch
einzugehen, auch gegen die Skepsis vieler Finnen, die ihm zu viel
Nachgiebigkeit vorhielten. Franck zitiert ein Fernsehgespräch, in dem
Kekkonen seine Taktik mit der Angst vor dem rücksichtslosen Nachbarn
begründet, mit dem Finnland über tausend Kilometer gemeinsame Grenze teilt.
Seit dem Ende des zweiten Weltkriegs drängte die UdSSR darauf, die
Beschlüsse der Konferenz von Jalta, aus der unter anderem die Teilung
Deutschlands hervorging, in einem verbindlichen Vertrag festzuschreiben. Ab
1969 knüpfte Leonid Breschnew an dieses Vorhaben an. Kekkonen sollte seine
neutrale Vermittlerrolle zugunsten dieses Plans nutzen. Ab 1973 ließen sich
die Nato-Staaten auf Verhandlungen ein. Ein mehr als zwei Jahre dauernder
Marathon kleinteiliger diplomatischer Gesprächsrunden in Genf begann.
Die Gespräche darüber, was Gegenstand und Ziel sein sollte und wie die
Verhandlungsmasse sinnvoll zu ordnen sei, feiert Arthur Franck zu Recht als
hohe Kunst geduldiger Diplomatie. Deutlich war Breschnews Drängen auf eine
verbindliche Festschreibung seiner Machtsphäre in Europa, was nicht zuletzt
für die Bundesrepublik den Abschied von der Idee der Wiedervereinigung
bedeutete.
## Recht auf Familienzusammenführung und Reisemöglichkeiten
Die Nato-Staaten ihrerseits bestanden auf einem Forderungspaket, in dem
mehr grenzüberschreitender Handel und ein Abrüstungsabkommen möglich werden
sollten, aber auch deutliche Zugeständnisse in Sachen Menschenrechte in der
UdSSR und ihren Satellitenstaaten festzulegen waren. Das Recht auf
Familienzusammenführung, Reisemöglichkeiten, kulturellen Austausch und
Pressefreiheit sollte der sowjetischen Verhandlungsführung im Korb III
genannten Forderungspaket abgetrotzt werden.
Leonid Breschnew ließ sich darauf ein, glaubte den Westen mit dem
Zugeständnis zu mehr individuellen Freiheiten zugunsten der Absicherung
seines Machtbereichs „in der Tasche“ zu haben. Nach 672 Verhandlungstagen
schien die Schlussakte bis in die spitzfindigsten sprachlichen Details
formuliert. Das dicke Buch war sendefertig für die Übergabe an die
Konferenzleitung in Helsinki.
In die abschließenden Verhandlungsrunden brachen jedoch Ereignisse ein, die
das fragile Konstrukt in Frage stellten. Von Freiheit konnte nicht die Rede
sein, als die UdSSR im Januar 1974 den [3][dissidentischen Schriftsteller
Alexander I. Solschenizyn] verhaftete und aus dem Land warf. Auch Arthur
Francks Zitat aus der flammenden Rede des zypriotischen Präsidenten
Erzbischof Makarios gegen die türkische Invasion in Zypern im Juli 1974
weist auf die Bruchstellen im harmonischen Bild hin.
Dennoch: Ohne explizit auf die heute aktuellen brutalen
Menschenrechtsverletzungen und die dreiste Nichtachtung regelbasierter
politischer Abmachungen einzugehen, beharrt Arthur Francks Film mit seinem
Flashback in das Jahr 1975 auf einem optimistischen Signal. Ein
Schmetterling ist sein Maskottchen. Im letzten Kapitel des Films erinnert
er daran, wie die Schlussakte der KSZE-Konferenz über das Medienereignis
hinaus handfeste zivilgesellschaftliche Wirkung zeigte.
Leonid I. Breschnew konnte sich zwar für die Bestätigung der Teilung
Deutschlands auf dem 25. Parteitag der KPdSU feiern lassen, unterschätzte
jedoch die zivilgesellschaftliche Energie, die Menschenrechtsgruppen in
vielen Ländern seines Machtbereichs, nicht zuletzt in der DDR, aus der
Unterzeichnung der Schlussakte zogen. Helsinki, erzählt der Film, war der
sprichwörtliche Schlag eines Schmetterlingsflügels, der auch die Mauer in
Berlin zu Fall brachte.
11 Jun 2025
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## AUTOREN
Claudia Lenssen
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