# taz.de -- Dokumentarfilm „Filmstunde_23“ im Kino: Blick zurück aufs Medi… | |
> Die Regisseure Edgar Reitz und Jörg Adolph besichtigen in „Filmstunde_23“ | |
> ein Schulexperiment von 1968. Die Protagonistinnen von einst sind dabei. | |
Bild: Bitte recht freundlich! Regisseur Edgar Reitz in der historischen „Film… | |
Theodor Storms Novelle „Schimmelreiter“ brachte die Sache ins Rollen. Im | |
turbulenten Jahr 1968 lasen die Mädchen der neunten Klasse des Münchner | |
Luisen-Gymnasiums den Text, konnten aber nicht recht in Worte fassen, was | |
ihnen an der damals einzigen Filmadaption auffiel, vermutlich die von 1934, | |
die vor Blut und Boden strotzte. | |
Es gab da aber schon den jungen deutschen Film, der ein anderes Kino | |
versprach, eines auf der Höhe der Zeit. [1][Edgar Reitz, einer der | |
prominentesten unter den in München beheimateten Autorenfilmern], war für | |
die ratlose Lehrerin erreichbar. Ob er nicht eine Filmstunde für die | |
Mädchen geben könne? | |
Als experimentierfreudiger Kameramann und Kurzfilmer hatte Edgar Reitz sich | |
viel Wissen angeeignet und es in Filmseminaren an der Ulmer Hochschule für | |
Gestaltung auch schon praktisch auf die Probe gestellt. Ein Schulfach Film | |
existierte 1968 nicht, ebenso wenig wie heute. Aber die Idee interessierte | |
ihn sehr. Er schaffte es sogar, das Bildungsprogramm des Bayrischen | |
Rundfunks als Co-Produzenten für eine Reportage über das Projekt zu | |
gewinnen. | |
So entstand der 45-minütige Dokumentarfilm „Filmstunde“ in Schwarz-Weiß, … | |
Wahrheit ein Stück Filmschule, das den seriösen jungen Dozenten, sein | |
kleines Kollegenteam und die dreizehnjährigen Mädchen über mehrere Wochen | |
zusammenführte. | |
Edgar Reitz in Anzug und Krawatte im Mittelpunkt, die anfangs verlegenen, | |
immer aufmerksamer lauschenden und eifrig mitdenkenden Teenager im | |
Klassenraum, Schritt für Schritt bei Überlegungen, was man alles mit | |
Kamerabewegungen, Bildschärfe, Lichtsetzung und mehr anstellen kann. Vor | |
allem aber ging es dem pädagogischen Kopf des Ganzen darum, in | |
Gruppengesprächen die individuellen Interessen der Mädchen herauszufinden, | |
sie zu Beobachtungen auf Münchens Straßen zu animieren und schließlich | |
jeder eine eigene Filmminiatur zu ermöglichen. Tatsächlich schaffte das | |
Team, sechsundzwanzig handliche Nizo-Kameras zu organisieren. | |
## Rebellische Atmosphäre der Zeit | |
Am Ende legten alle „Autorenfilmerinnen“ ihre Kurzfilme vor, zum Beispiel | |
über [2][Valentin-Typen vom Viktualienmarkt], Märchenstücke mit den | |
Geschwistern oder freche Satiren, in denen sich ein bisschen von der | |
rebellischen Atmosphäre der Zeit spiegelt. Im Zeitraffertempo macht sich | |
eine über die Verkehrspolizei lustig, eine andere zeigt ihren Papa in einer | |
treffend komischen Pantomime über die „Eitelkeit der Männer“. | |
Schließlich aber verschwanden die originellen Ergebnisse dieses Sommers in | |
den Archiven, auch die Filmminiaturen der Schülerinnen, bis irgendwann nach | |
Corona eine von ihnen zufällig den inzwischen 90-jährigen Edgar Reitz traf | |
und auf die „Filmstunde“ ansprach. Zusammen mit dem [3][Dokumentarfilmer | |
Jörg Adolph, der schon einmal in „Elternschule“ (2018)] eine besondere | |
Schulform in einer Kinderklinik begleitet hat, entwickelte er | |
„Filmstunde_23“, die Wiederbegegnung des alten Herrn mit den zu gestandenen | |
70+-Ladies herangewachsenen Gymnasiastinnen von einst. | |
Man traf sich gut gelaunt in einem Vorführraum, schaute gemeinsam die | |
historische Reportage, erinnerte sich an die eigenen Gefühle in der | |
merkwürdigen Drehsituation im schallgedämpften Klassenraum, vor allem aber | |
in den Gesprächen, in denen viele der Mädchen zum ersten Mal auf ihre | |
eigenen Empfindungen, Interessen und Perspektiven auf die sich verändernde | |
Umwelt angesprochen worden waren. | |
## Gutes Timing | |
„Filmstunde_23“ ist ein liebevoll zur Nachahmung aufrufendes Dokument über | |
die lebenslang positive Nachwirkung des spielerischen Lernens über und mit | |
dem Filmmedium geworden. | |
Jörg Adolphs Regie und Editorenarbeit lässt den historischen Filmzitaten | |
aus „Filmstunde“ und den heutigen Kommentaren der Frauen viel Raum und ein | |
gutes Timing im Wechsel zwischen schwarz-weiß und Farbe, früher und heute, | |
jung und alt. Edgar Reitz, der hellwache Senior mit legerem rotem Halstuch, | |
moderiert das Treffen, nicht ohne seine unverändert didaktische | |
Grundhaltung und Philosophie noch einmal öffentlich zu erklären. | |
Tauscht sich die Gruppe in schwärmerischen, bisweilen nachdenklichen | |
Statements über die bis heute nachwirkende Erfahrung mit seinem | |
Schulexperiment aus, fasst er seine Botschaft zusammen, dass Film als | |
„spielerisches Mitteilungsmedium“ weit mehr unbewussten Einfluss auf | |
Jugendliche ausübe als der übliche Deutschunterricht. | |
Film, gibt er zukünftigen „Filmstunden“ mit auf den Weg, ist ein wichtiges, | |
wenn nicht das wichtigste Medium, das einen mit der Vergänglichkeit der | |
eigenen Existenz konfrontiert. In Zeiten permanenter Gegenwart medialer | |
Bilder erinnert er an den Kommentar einer Mutter in der historischen | |
Reportage. Sie betonte, dass ihre Tochter mit dem Wissen um das Medium viel | |
kritischer damit umgehe. Am Ende aber ist „Filmstunde_23“ nicht nur als | |
Leitfaden für neue Anstrengungen in Sachen Filmbildung zu verstehen, | |
sondern bietet ein unterhaltsames Stück Zeit- und Filmgeschichte. | |
9 Jan 2025 | |
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## AUTOREN | |
Claudia Lenssen | |
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