# taz.de -- Regisseur Edgar Reitz über Corona-Krise: „Abschottung gibt es ni… | |
> In der Pandemie lebt die Menschheit zum ersten Mal wirklich global, sagt | |
> Filmemacher Edgar Reitz. Er erhält den Ehrenpreis des Deutschen | |
> Filmpreises. | |
Bild: „Das Kino ist in einer Krise, wie es sie noch nie gegeben hat“, sagt … | |
Bei der 70. Verleihung des Deutschen Filmpreises, die die ARD am Abend des | |
24. April live und ohne Gäste im Ersten überträgt, wird der Regisseur Edgar | |
Reitz mit dem „Ehrenpreis für herausragende Verdienste um den Deutschen | |
Film“ ausgezeichnet. | |
taz: Herr Reitz, Sie haben Ihre Filmreihe „Heimat“ nicht in einen | |
klassischen Handlungsbogen gesetzt. Wie stehen Sie heute zum Regeldrama, | |
also zur Drei-Akt-Erzählung nach Aristoteles? | |
Edgar Reitz: Dass ich vor über 30 Jahren damit angefangen habe, anders zu | |
erzählen, liegt daran, dass mir die übliche, auf das Ende hin konzipierte, | |
pointierte Erzählform nie eingeleuchtet hat. Ich sah, dass das Leben anders | |
ist. Einer meiner Lieblingssprüche dazu stammt von Karl Valentin: Solange | |
ich lebe, muss ich damit rechnen, dass ich weiterlebe. Der versteht mehr | |
vom Leben als die Dramaturgen und Dramatiker, die alles auf | |
Spannungsdramaturgie trimmen! Darum habe ich mich damals von der epischen | |
Form in der Literatur leiten lassen – da geht es nicht um die Frage, wie | |
die Geschichte ausgeht, sondern um das Gespür für die Situation, die | |
Verhältnisse, die Gefühle und Hoffnungen, die man hat. Keiner von uns kennt | |
die Stunde seines Todes. Nach wie vor finde ich, dass das der richtige Weg | |
ist. Heute, wo Serienerzählungen modern geworden sind, wird auch dort | |
wieder nur mit Cliffhangern und Dramatisierungen gearbeitet. Damit | |
untergräbt man die erzählerische Kraft, die in diesem Genre steckt. | |
Dabei ähneln gerade die langen Handlungsbögen der seriellen Erzählung Ihrer | |
Erzählweise. | |
Das stimmt, die Stoffmenge spielt eine entscheidende Rolle. Darum gehen | |
Verfilmungen großer Romane fast immer schief. „Krieg und Frieden“ zum | |
Beispiel – wurde mehrmals verfilmt, und dabei immer wieder vergewaltigt, | |
denn was an epischer Gewalt im Roman steckt, das wird durch so eine | |
Dramatisierung zerstört. Wir sollten nicht vergessen, dass die heutigen | |
Genres und Längen nur durch den Markt entstanden sind: Das Kinoprogramm | |
gibt durch eine bestimmte Struktur vor, dass ein Film anderthalb bis zwei | |
Stunden dauern darf. Weltweit hat sich darum eine Industrie gebildet, die | |
Stoffe auf dieses Format trimmt. Aber das klassische Kino mit 20- und | |
22.30-Uhr-Vorstellungen wird es nicht mehr lange geben, nach Corona erst | |
recht nicht. Das Kino ist in einer Krise, wie es sie noch nie gegeben hat. | |
Was danach übrig bleibt, hat nur mit einem neuen Konzept eine Chance. Doch | |
es ist ja schon etwas im Gange! | |
Was denn? | |
Es gibt immer mehr Festivals, dadurch entsteht eine neue Programmstruktur | |
in kleineren Städten, es treten mehr Künstler in den Kinos auf. Denn dass | |
der Mensch ein soziales Wesen ist, daran ändert Corona nichts. Man kann ihm | |
nicht abgewöhnen, sich zu versammeln, um Dinge in körperlicher, realer | |
Gemeinschaft zu erleben. | |
Momentan halten sich die meisten in Deutschland an die | |
Social-Distancing-Regeln – ist das ein Zeichen für Vernunft oder auch für | |
Unterwürfigkeit? | |
Das ist ein Zeichen für Angst. Die Menschen haben eine Sehnsucht danach, | |
dass ihnen jemand sagt, was sie tun sollen. Ganz offensichtlich gibt es | |
auch unabhängig von der Pandemie ein Gefühl der Unsicherheit in der | |
Gesellschaft. | |
Durch die Pandemie verändert sich gerade sehr viel – auch der | |
Heimatbegriff? | |
Seit einigen Jahren beobachte ich, dass der Heimatbegriff zunehmend in der | |
Diskussion ist. Es gibt keine Uni, keine Kirche, keine Betriebsfeier mehr | |
ohne das Thema. Dazu mischen sich die neuen Rechten ein und versuchen, es | |
sich unter den Nagel zu reißen. Das Bedürfnis, in einer übersichtlichen, | |
geschützten Welt zu leben, nostalgisch zu denken, der idyllische | |
Regionalismus – das ist eine Tendenz. Ich glaube nicht, dass das durch die | |
Pandemie beflügelt wird, im Gegenteil – die Menschheit lebt gerade zum | |
ersten Mal wirklich global. Dass etwas überall auf der Welt stattfindet, | |
jeden Menschen auf dem Globus trifft – das ist etwas vollkommen Neues. Wir | |
begreifen mehr und mehr, dass es eine Abschottung nicht gibt, man kann | |
nicht zumachen und sagen: Bei uns nicht. | |
Inwiefern ändern sich auch die Filminhalte, die Menschen anschauen? | |
Meine Generation hat immer darüber nachgedacht, wie lebensnah ein Film ist. | |
Spiegelt man sich darin? Wie sehr gelingt dem Film, das Lebensgefühl, das | |
man hat, wiederzugeben? Das ist eine der wichtigsten Voraussetzungen, um | |
die Herzen der Menschen zu erreichen. | |
Zahlenmäßig am erfolgreichsten sind aber Filme, die nichts mit dem eigenen | |
Lebensgefühl zu tun haben – eskapistische Blockbuster, die in anderen | |
Welten spielen. | |
Was heutzutage im Leben eskapistisch ist, und wieso – das müsste man mal | |
herausfinden, es ist schwer, den Menschen in die Köpfe zu schauen. | |
Was wird später von der aktuellen Situation bleiben? | |
Es wird viele Nachwirkungen geben, sowohl in politischer als auch in | |
wirtschaftlicher und künstlerischer Hinsicht. Vor allem aber im Verhältnis | |
zur Natur: Alles, was wir bislang über die Ursachen der Pandemie wissen, | |
ist, dass das Gleichgewicht der Natur gestört ist. In normalen | |
evolutionären Zuständen bleibt so etwas innerhalb eines vitalen | |
Zusammenhangs, etwa im Tierreich oder in bestimmten Regionen. Aber in einer | |
vollglobalisierten, auf weltweiten Handel aufgebauten Welt gibt es diese | |
Begrenzungen nicht mehr, genauso wenig wie das respektvolle | |
Distanzverhältnis zur Natur. Wir sind in einen Taumel der Naturbeherrschung | |
verfallen. Es gibt einen Zusammenhang zwischen der Destabilisierung der | |
Natur, dem Verschwinden der Artenvielfalt, der Klimaveränderungen und den | |
Pandemien. | |
Was muss aus dieser Erkenntnis folgen? | |
Dass wir unseren Lebensstil ändern müssen. Diese grenzenlose Mobilität, der | |
Umgang mit den Ressourcen, dass wir immer alles auf unserem Frühstückstisch | |
haben wollen – das wird auf Dauer nicht mehr gehen. Die große Frage ist, ob | |
wir den Fehler machen werden, all das wieder zu vergessen, wenn es zum | |
Normalmodus zurückgeht. | |
Vielleicht kommt es drauf an, wie sehr wir traumatisiert sind? | |
Ja, nach dem Zweiten Weltkrieg sind zum Beispiel mindestens 20 Jahre | |
vergangen, in denen keiner drüber reden wollte, alles wurde unter den | |
Teppich gekehrt. So ist der Mensch: Wenn er etwas durchgemacht hat, will er | |
es möglichst schnell vergessen. | |
In „Heimat“ haben Sie fast ein ganzes Jahrhundert porträtiert, angefangen | |
mit dem Ersten Weltkrieg als erste moderne Zäsur. Wäre der aktuelle | |
Lockdown als Zäsur für eine Serie denkbar? | |
Vielleicht. Aber historische Ereignisse, die uns tief im Gedächtnis | |
bleiben, werden eben erst im Nachhinein künstlerisch verarbeitet. Deswegen | |
glaube ich, dass es zwar eine Menge dokumentarisches Material über die | |
aktuelle Situation geben wird, aber die großen Filme, der große Stoff | |
darüber kommt erst später. | |
Wie lernen Sie die Figuren kennen, die Sie porträtieren? | |
Am besten ist es, etwas persönlich erlebt zu haben. Das ist ein Problem, | |
das ich schon lange in Bezug auf die Zeitgeschichte beobachte. Zum Beispiel | |
der Zweite Weltkrieg: Es ist eine Generation Filmemacher herangewachsen, | |
die ihn nicht erlebt hat. Trotzdem ist das Thema noch wach. Wenn Christian | |
Schwochow, den ich sehr schätze, „Deutschstunde“ verfilmt, spielt das in | |
einer Zeit, die er nicht persönlich erlebt haben kann. Obwohl er ein | |
profunder Filmemacher ist, fehlt der Filmerzählung aus diesem Grund das | |
Geheimnis des inneren Verstehens. | |
Kann man dann als Mann überhaupt Frauenfiguren schreiben, wenn man nie als | |
Frau durch die Welt gegangen ist? | |
Oh ja. Der Unterschied zwischen Frauen und Männern wird kulturell | |
hochgespielt. Viele Frauenfiguren in meinen Filmen sind insgeheim Porträts | |
von Männern, die habe ich sozusagen einer Geschlechtsumwandlung unterzogen, | |
weil ich erzählen wollte: Das ist ein Mensch, egal ob Frau oder Mann. Diese | |
Frauenfiguren würde eine Regisseurin auch nicht anders erzählen. Die | |
Tiefendimensionen einer Figur fallen einem nie einfach so zu, die muss man | |
sich immer durch Selbsterkundung erschließen. Auf jeden Fall ist man | |
hinterher kein Macho mehr, falls man vorher einer war. | |
24 Apr 2020 | |
## AUTOREN | |
Jenni Zylka | |
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