| # taz.de -- Corona und Freiheitsbeschränkungen: Ansteckende Herdenfreiwilligke… | |
| > Die Politik schränkt massiv Freiheiten ein, die Menschen machen dabei | |
| > weitgehend mit. Aus Vernunft oder Angst? | |
| Bild: Befolgen diese Frankfurter die Abstandsregeln aus Vernunft oder aus Angst… | |
| Wir sind in einer heiklen Phase. In Deutschland wie in Österreich. Nach der | |
| Zeit der drastischen Beschränkungen wird auch die vorsichtigste Lockerung | |
| zum Freiheitsgewinn. Die Wochen der Isolation machen selbst den Besuch im | |
| Baumarkt zum Erlebnis. Zugleich hängt das Damoklesschwert einer neuerlichen | |
| Notbremse über unseren freiheits-, und das heißt heute | |
| normalitätssehnsüchtigen Köpfen. So ein Rückschritt wäre schwer zu | |
| verkraften. | |
| Aber selbst der beste Fall bedeutet eine besondere Herausforderung. Der | |
| Shutdown war auf kurze Dauer angelegt. Jetzt müssen wir uns auf eine lange | |
| Dauer einstellen. Eine eingeschränkte „Normalität“ über Monate. Und mit | |
| ungewissem Endpunkt. Das braucht einen langen Atem: Geduld, Disziplin und | |
| vor allem Zustimmung. Deshalb ist die Frage nach wie vor zentral: Warum hat | |
| die große Mehrheit die Anordnungen befolgt? Nur so lässt sich abschätzen, | |
| wie belastungsfähig dies ist. | |
| Ziel der Politik ist derzeit, das Verhalten der Menschen bis in die | |
| kleinsten Alltagshandlungen hinein zu verändern. Daher ist sie angewiesen | |
| darauf, dass die Menschen mitwirken, dass sie die Regeln nicht nur | |
| einhalten, sondern dies auch freiwillig tun. Was aber heißt „freiwillig“ in | |
| diesem Zusammenhang? | |
| Freiwillig heißt eigentlich: Wir verstehen, dass solche Einschränkungen | |
| notwendig sind. Wir sind einsichtig in die Vernunftgründe. Wir folgen den | |
| Anordnungen also aus Überzeugung. Nicht freiwillig hieße dann: Wir folgen, | |
| weil wir müssen. Weil es Strafen, Drohungen, Kontrollen gibt. Dann folgen | |
| wir dem Zwang. Und nicht der Vernunft. | |
| ## Freiwillige Unterwerfung | |
| Was aber ist mit der Angst? Wenn wir aus Angst vor dem Virus handeln. Oder | |
| aus Angst vor der Obrigkeit. Dann befolgen wir die Maßnahmen, dann halten | |
| wir uns an die Einschränkungen, weil wir uns davon etwas versprechen. | |
| Schutz, Sicherheit. Dann handeln wir auch freiwillig – aber nicht aus | |
| Vernunftgründen. Freiwillig – aber nicht als mündige Bürger. Das nennt man | |
| dann: freiwillige Unterwerfung. Folgerichtig ist diese meist keine des | |
| Einzelnen. Es ist vielmehr eine Art Herdenunterordnung – beziehungsweise | |
| eine Herdenfreiwilligkeit. Diese ist gewissermaßen ansteckend. | |
| Solchem Gehorsam mangelt es nicht an Freiwilligkeit – sondern an | |
| eigenständigem Urteil. Aber wer kann ein solches in Zeiten von Corona schon | |
| beanspruchen – wo selbst Virologen uneins sind über das, was richtig und | |
| angemessen ist. Wir folgen gewissermaßen blind einem ungewissen | |
| Versprechen: Wohlverhalten gegen Schutz. Ein merkwürdiges Tauschverhältnis. | |
| Auf der einen Seite: die Politik mit ihrer jeweiligen Art, mit den Bürgern | |
| zu kommunizieren. Dabei ist es zentral, als wen sie diese anspricht. In | |
| Deutschland etwa erklärt die Naturwissenschaftlerin Merkel der Bevölkerung | |
| in nüchterner Klarheit, wie sich das mit der Reproduktionszahl verhält – | |
| und schließt daraus auf die vernünftige Einsicht der Menschen. Es sei dies, | |
| schreibt Die Zeit, „eine Wette auf das Verantwortungsgefühl der Bürger“. | |
| Die protestantische Prägung scheint anhaltend. | |
| Es ist nicht so, dass man es in Österreich nicht auch mit Vernunft | |
| probieren würde. Aber dann greift man doch gut katholisch und frei nach | |
| Gramsci auf die Formel zurück: Überzeugung gepaart mit Zwang. All die | |
| Erklärungen für diese Art der Kommunikation – Ausnahmezustand, | |
| Krisensituation, Zeitdruck – schwächen den Befund nicht ab, sondern | |
| bestätigen ihn vielmehr: Gerade in solcher Bedrängnis tritt unwillkürlich | |
| jenes Menschenbild zutage, das man vorher schon hatte. | |
| Auf der anderen Seite ist unser Verhältnis zur Politik. Dieses verändert | |
| sich gerade massiv. Denn Krisenpolitik liefert keine Lösungen. Kann keine | |
| Lösungen bieten. Sie kann nur im Modus trial and error, Versuch und Irrtum, | |
| verfahren. Früher dachte man immer, Politiker wüssten mehr als die | |
| Bevölkerung. Derzeit ist klar: Sie wissen auch nichts. Es ist nicht klar, | |
| was beunruhigender ist. | |
| Was also ist unsere Antwort auf deren Wette? Es bleibt uns derzeit nichts | |
| anderes übrig, als blind auf deren Vertrauenswürdigkeit zu wetten. Eine | |
| Wette mit höchstem Einsatz. | |
| 29 Apr 2020 | |
| ## AUTOREN | |
| Isolde Charim | |
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