| # taz.de -- Verhalten in der Coronapandemie: Ein unmöglicher Spagat | |
| > Der US-Präsident hat im Umgang mit seiner Coronainfektion unser | |
| > momentanes Paradoxon verdeutlicht: Wir sollen aufpassen, aber | |
| > weitermachen wie bisher. | |
| Bild: Der unvorsichtige Möchtegernheld ganz vorsichtig mit Maske, das ist alle… | |
| Erinnern Sie sich noch an Donald Trumps Verhalten als Coronapatient? Es | |
| hatte weltweites [1][Kopfschütteln] hervorgerufen. Da gab es seine | |
| Spazierfahrt aus der Klinik, seine „triumphale“ Rückkehr ins Weiße Haus u… | |
| seine große Maskenabnehm-Geste. All das hat Fassungslosigkeit | |
| hervorgerufen. Aber man sollte dabei eines nicht übersehen: Was Trumps | |
| Großspurigkeit bewirken sollte, war eine Umcodierung. | |
| Sein ganzes Verhalten folgte dem Drehbuch dieser Bedeutungsverschiebung. Es | |
| sollte aus dem Virus eine Herausforderung machen, der man mit Mut begegnen | |
| könne. Und nicht etwa mit Hygienemaßnahmen. Damit wollte er sich als jener | |
| starke Typus inszenieren, der vor der Biologie nicht in die Knie geht. Der | |
| mit seinem Körper als starker Führer in unsicheren Zeiten einsteht. | |
| Joe Biden aber sollte damit den anderen Typus verkörpern. Seine Vorsicht in | |
| Sachen Prävention sollte damit als überängstlich, übervorsichtig, | |
| schwächlich denunziert werden – als Kapitulation vor dem Virus. Trumps | |
| verquerer Heroismus diente also dazu, die beiden Präsidentschaftskandidaten | |
| in zwei Coronatypen zu verwandeln. | |
| Trump mag verrückt sein, aber in gewisser Weise brachte er die Absurdität | |
| unserer Situation zur Kenntlichkeit. Sein Exzess machte in entstellter Form | |
| die Unmöglichkeit unseres eigenen derzeitigen Alltags sichtbar. Wir halten | |
| uns gegenseitig vor, der Trump- oder der Biden-Typus zu sein: | |
| rücksichtslos, unvernünftig oder aber überängstlich, übervorsichtig – | |
| jeweils aus der Perspektive des anderen. | |
| ## Unmöglichkeit des Alltags | |
| In Realität aber wird uns abverlangt, beides zugleich zu sein. Wir sollen | |
| aufpassen – aber konsumieren. Dem Virus Tribut zollen – aber ausgehen. Also | |
| Normalität und Ausnahme zugleich leben. Denn irgendwer muss die Restaurants | |
| ja füllen, die Dinge kaufen, die Büros bevölkern, die Schulen, die | |
| Betriebe. | |
| Alles soll am Laufen gehalten werden – unerschrocken. Und zugleich mit | |
| äußerster Vorsicht. Wir sollen beide Typen in einem sein. Trump und Biden | |
| in Personalunion. Das ist wie Stehen und Gehen zugleich. Ein unmöglicher | |
| Spagat. Wie soll das gehen: sich und andere schützen? In der vollen U-Bahn? | |
| Am Arbeitsplatz? Als Eltern von Schulkindern? Es steht letztlich nicht in | |
| unserer Macht, ob wir eher Trump- oder Biden-Typen sind. Ob wir | |
| „Entscheider“ oder Vernünftige sind – beides erweist sich in dieser | |
| Situation als relativ illusionär. | |
| Der Spagat wird noch unmöglicher, wenn man bedenkt, dass wir in einem | |
| System leben, das gänzlich auf Kontinuität ausgerichtet ist. Und nicht auf | |
| Ausnahmezustand. Schon gar nicht auf die Unwägbarkeiten einer Normalität | |
| auf Abruf – wie bei all den Formen von „soften“, regionalen, temporären | |
| Maßnahmen. Wie soll eine Gesellschaft unter dem Damoklesschwert | |
| wiederkehrender Quarantänen funktionieren? | |
| ## Wie lebt man damit? | |
| Wie lebt die Lehrerin damit, immer wieder in Quarantäne zu müssen? Wie | |
| leben die Schüler damit? Und was vor allem macht die Angestellte, die als | |
| Kontaktperson einen [2][„Absonderungsbescheid“] (so heißt das in | |
| Österreich) bekommt und deren Chef ihr sagt, ihre Abwesenheit werde ihren | |
| Urlaubstagen zugerechnet. Befolgt so jemand dann corona-vernünftig die | |
| Quarantäne – oder geht er corona-unvernünftig, aber unter ökonomischer | |
| Zwangs-Vernunft trotzdem in die Arbeit? | |
| Die Frage, ob die Leute die Quarantänevorschriften einhalten, ist nicht nur | |
| eine Frage von Vernunft oder Unvernunft. Es ist nicht nur eine Frage des | |
| Wollens und des Nichtwollens. Es ist die Frage, ob wir in rechtlichen, | |
| ökonomischen, sozialen Zusammenhängen leben, die diese Frage überhaupt | |
| entscheidbar machen. | |
| Dem unmöglichen Spagat des Einzelnen entspricht die Unmöglichkeit einer | |
| Gesellschaft, Normalität und Ausnahme zugleich zu leben: Die Normalität in | |
| die [3][Ausnahme] und die Ausnahme in normale Abläufe zu integrieren – das | |
| geht sich nicht aus. Wir haben hierzulande nicht nur im eigentlichen Sinn | |
| keine Wahl zwischen Trump und Biden. Wir haben noch nicht einmal die Wahl, | |
| welcher Coronatypus wir sein wollen. | |
| 28 Oct 2020 | |
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| ## AUTOREN | |
| Isolde Charim | |
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