| # taz.de -- Rationalität und Corona: Verlust der gemeinsamen Basis | |
| > In der Pandemie zeigt sich, dass das Reservoir an Gemeinschaftsgefühlen | |
| > rasch erschöpft ist. Das gilt auch für die Protestierenden. | |
| Bild: Coronaleugner demonstrieren auch im Auto | |
| Sowohl das Exzessive, das manch einem Coronademonstranten anhaftet, als | |
| auch die Rechtsextremen, die dabei mitmarschieren – gerade diese Mischung | |
| ruft die Kommentatoren auf den Plan. Sie schütteln den Kopf und fragen: Was | |
| ist das Gemeinsame all dieser Leute? Ist es das Virus, das diese | |
| unterschiedlichen Menschen zu einer Protestmasse verbindet? | |
| Erst kürzlich meinte ein Kommentator, dass dem nicht so sei. Nicht das | |
| Virus sei das Verbindende. Was all diese unterschiedlichen Haltungen | |
| vereint, sei vielmehr der Verlust der gemeinsamen Basis. Eine hübsche | |
| Paradoxie. Was aber ist diese „gemeinsame Basis“, die da verloren ging? | |
| Gemeint war: [1][das rationale Weltbild,] das auf Wissenschaftlichkeit | |
| beruhe. Dieses würde die Basis der Demokratie bilden. Was im Umkehrschluss | |
| bedeutet: Verlässt man diese Basis, dann ist auch die Demokratie in Gefahr. | |
| Da ist wohl etwas dran und das lässt sich auch vielerorts beobachten und | |
| bestätigen. Aber man sollte bei solch einem Befund eines bedenken: Die | |
| Zeiten, wo die Demokratie fest auf dem Boden der Aufklärung stand, sind (so | |
| es sie je gegeben hat) längst vergangen. | |
| Wir mögen jetzt überrascht und verschreckt sein angesichts der Differenzen, | |
| die Corona als gesellschaftliches Phänomen sichtbar macht. Angesichts der | |
| Vehemenz, mit der sich diese Differenz äußert. Angesichts auch des | |
| unerwarteten Ausmaßes an Irrationalität, das da auftaucht. Tatsächlich aber | |
| gibt es eine Entwicklung, die schon lange vor der Pandemie nicht nur die | |
| Aufklärung infrage gestellt hat, sondern vor allem den [2][Gedanken einer | |
| „gemeinsamen Basis“]. | |
| Also den Gedanken einer rationalen Grundlage, auf die alle verpflichtet | |
| werden können. Oder sich selbst verpflichten. Haben wir nicht längst den | |
| Gedanken verabschiedet, dass Gesellschaft überhaupt eine gemeinsame | |
| Grundlage hat oder braucht? Haben wir diese Vorstellung nicht längst | |
| aufgegeben? | |
| Genauer gesagt: Rationalität als allen gemeinsame Basis war immer eine | |
| Fiktion. Aber es war die Fiktion, die für eine demokratische bürgerliche | |
| Gesellschaft notwendig war. Die Entwicklung der letzten Jahrzehnte aber | |
| geht in eine andere Richtung: Wir haben Gesellschaften, die nicht einmal | |
| mehr die Fiktion eines solchen gemeinsamen Bodens haben. Oder brauchen. | |
| Bedürfnis nach Konformität | |
| Aus Sicht der Macht ist die Gesellschaft nicht mehr auf konformes Verhalten | |
| geeicht – deren Name für „gemeinsame rationale Basis“. Aus neoliberaler | |
| Sicht hat die Gesellschaft „kein unbegrenztes Bedürfnis nach Konformität“. | |
| Sie kann mit einer gewissen Rate an Abweichungen leben. Sie braucht kein | |
| umfassendes Disziplinarsystem mehr. Das schrieb ausgerechnet der | |
| Theoretiker der Disziplinen, Michel Foucault. 1979. Damals mag das | |
| befreiend geklungen haben. | |
| Aus Sicht der Gesellschaftsmitglieder stellte sich diese Flucht aus der | |
| Fiktion einer gemeinsamen Realität und einer gemeinsamen Rationalität | |
| anders dar: Was als Traum begann, als Traum, der Gesellschaft zu | |
| entfliehen, wurde immer mehr zu dem Versuch, sich überhaupt nicht mehr mit | |
| der gesellschaftlichen Ordnung zu identifizieren. Es gab also einen | |
| kollektiven Abschied aus einer Gesellschaft als Gemeinsamkeit. Ein | |
| Abschied, der eben auch die „gemeinsame Basis“ des rationalen Weltbilds | |
| betraf. Als letzte gesellschaftliche Gemeinsamkeit blieb, dass es keine | |
| Gemeinsamkeiten gibt. Das teilen wir. Aber es verbindet uns nicht. | |
| Das mag bei normalem Betrieb ein Stück weit funktionieren. In | |
| Pandemiezeiten ist das gänzlich unbrauchbar. [3][Denn da braucht es alle | |
| Arten von Gemeinsamkeit], und alle Arten von Rationalität, deren man | |
| habhaft werden kann. Wissenschaftliche, gesellschaftliche, politische. Und | |
| es zeigt sich, dass dieses Reservoir ziemlich erschöpft ist. Weder | |
| Rationalität noch Gemeinsamkeit sind ausreichend vorhanden. | |
| Die Demos aber, ebenso wie all die Irrationalitäten, die nunmehr | |
| auftauchen, starten nicht von einer „gemeinsamen Basis“, die sie verlassen. | |
| Man könnte eher sagen: Sie werfen uns unsere eigene Botschaft in verkehrter | |
| Form zurück. | |
| 24 Feb 2021 | |
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| ## AUTOREN | |
| Isolde Charim | |
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