| # taz.de -- Angst und Wut in der Pandemie: Affekte beherrschen unsere Zeit | |
| > Es sind nicht Überzeugungen, sondern Emotionen, die uns aktuell spalten. | |
| > Für eine Gesellschaft ist die Vorherrschaft der Affekte höchst | |
| > problematisch. | |
| Bild: Die Meinungen zu allem driften massiv auseinander | |
| Was man derzeit mit aller Deutlichkeit feststellen kann: Die Meinungen zu | |
| allem driften massiv auseinander. Die Meinungen über das, was Realität ist | |
| – und was nicht. Was Aufklärung ist – und was nicht. Was Satire ist – und | |
| was nicht. Was korrekt ist – und was nicht. Was Wahrheit ist – und was | |
| nicht. Was Diktatur ist – und was nicht. Was Freiheit ist – und was nicht. | |
| Kurzum: die Meinungen über die grundlegensten Kategorien der | |
| gesellschaftlichen Existenz driften auseinander. Immer schneller. Und immer | |
| weiter. So weit, dass eine Verständigung immer schwieriger wird. | |
| Das Erstaunliche dabei ist: Die Unterschiede verlaufen nicht einfach | |
| entlang politischer Überzeugungen und Parteien. Die unterschiedlichen | |
| Meinungen entsprechen nicht notwendig den Großgruppen und Klassen. Sie | |
| folgen nicht exakt den gesellschaftlichen Klassifizierungen. Sie erstrecken | |
| sich vielmehr in die privateste Umgebung und entzweien diese. | |
| Plötzlich weist diese ganz persönliche Lebenswelt Trennlinien auf, die bis | |
| vor Kurzem noch undenkbar waren. In den Familien. Im Freundeskreis. Im | |
| Arbeitsumfeld. In den medialen Foren. In dem, was einmal als Echokammer | |
| gescholten wurde. Undenkbar war das nicht nur als Trennlinien, als | |
| unterschiedliche Meinungen, als Auseinanderdriften der Positionen – sondern | |
| undenkbar war das auch in der Schärfe, in der Dringlichkeit, in der | |
| Vehemenz und in der Unnachgiebigkeit, wie es sich heute präsentiert. | |
| Und genau das zeigt, dass wir es längst nicht mehr einfach nur mit | |
| Meinungen zu tun haben, sondern mit etwas anderem: mit Leidenschaften. Mit | |
| emotionalen Erregungen. Mit Affekten. Denn nur Gemütsbewegungen weisen | |
| solch eine Intensität, solch eine Heftigkeit auf. Wir leben also in einer | |
| Zeit, wo die Affekte vorherrschen. Wir leben im Affekt. | |
| Anhaltende Ausnahmesituation | |
| Jetzt muss man einmal sagen, dass das für solch eine lange, anhaltende | |
| Ausnahmezeit, wie es diese Pandemie ist, alles andere als erstaunlich ist. | |
| Natürlich treten sich Menschen, die unter solchen Bedingungen leben – also | |
| alle, denn das haben alle gemein (wenn auch in sehr unterschiedlichen | |
| Bequemlichkeitsgraden) –, in solcher Ausnahmesituation nicht kühl als | |
| rational argumentierende Vernunftsubjekte gegenüber. | |
| Wenn man also feststellen muss, dass es derzeit eine Vorherrschaft der | |
| Affekte gibt, dann stellt sich die Frage: Welche Affekte sind das dann? | |
| Welche herrschen vor? Die Antwort ist eindeutig: Es ist Angst. Und Wut. | |
| Angst vor Corona. Angst vor den wirtschaftlichen Folgen. Den eigenen und | |
| den allgemeinen. Angst um seine Nächsten. Angst vor Einsamkeit. Und Wut: | |
| Wut über die Regierung. Und Wut über die Regierungsgegner. Wut über | |
| Verschwörungstheorien. Und Wut über Verschwörungstheoretiker. Wut über die | |
| Pharmaindustrie. Und Wut über jene, die gegen die Pharmaindustrie sind. | |
| Wir haben also alle teil an dem Vorherrschen der Affekte. Aber das eint uns | |
| nicht. Ganz im Gegenteil. Denn es sind ja nicht verbindende, sondern | |
| vielmehr antagonistische Leidenschaften. Die gegensätzlichen Meinungen | |
| haben sich in gegensätzliche Leidenschaften verwandelt. Und egal wie | |
| rational oder irrational sie sein mögen – die Argumente kaschieren nur | |
| schlecht die Affekte, die hier aufeinanderprallen: Ablehnungen, | |
| Abgrenzungen. Und diese folgen der Logik der Affekte. Sie sind ansteckend. | |
| Sie breiten sich aus. Es sind Antagonismen, Unterschiede, Widersprüche, die | |
| sich gegenseitig verstärken und eskalieren. Vom Gegensatz bis zum Hass. | |
| Solche Vorherrschaft von Affekten, solches Auftreten von Emotionen ist aber | |
| für jede Gesellschaft höchst problematisch. Denn dies untergräbt die | |
| grundlegendsten Übereinkünfte. Das politische Problem beginnt also schon | |
| dann, wenn die Affekte so gesteigert sind, so blank liegen – und nicht erst | |
| bei den Meinungen. Deshalb ist die Neutralisierung solch negativer | |
| Leidenschaften eine ebenso heikle wie dringliche politische Aufgabe. Eine | |
| Aufgabe, die heute nicht mehr alleine den klassischen Staatsapparaten | |
| zukommt. Sondern längst auch den neuen politischen „Akteuren“ – den | |
| medialen Apparaten. | |
| 27 Apr 2021 | |
| ## AUTOREN | |
| Isolde Charim | |
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