# taz.de -- Corona und die Nachwirkungen: Die vergiftete Gesellschaft | |
> Das Politische der Pandemie ist zu strikt in richtig und falsch geteilt. | |
> In diesem „Wir gegen die“ wird der Raum für Zweifel knapp. | |
Menschen brechen. Langsam und unsichtbar, leise oder laut, aber sie | |
brechen. Es ist ihnen zu viel, sie sind müde oder leer oder pleite. Sie | |
fühlen sich nicht sicher, sie fühlen sich verletzt, sie sind wie | |
Unfallopfer, die an der Kreuzung stehen, einen Totalschaden neben sich, der | |
Motor rauchend. Und sie sagen: Nein, nein, alles gut, während sie eine | |
klaffende Kopfwunde haben, die sie noch nicht spüren. | |
Die Gesellschaft steht unter Schock. [1][Und die Wirkungen von Corona | |
werden erst nach und nach sichtbar, spürbar, greifbar.] Ich weiß das, und | |
ich wusste das. Ich habe ein Tagebuch über Corona geführt, das extra nicht | |
politisch war, weil das Politische der Pandemie mir zu aufgeladen war, von | |
Anfang an. | |
Es gab gleich diese Fronten. Es gab uns und die anderen. Es gab richtig und | |
falsch und wenig dazwischen. Dabei wären Zweifel, Ausprobieren, Austausch | |
so wichtig gewesen. | |
Ich wusste es also, dass Menschen brechen. Aber ich habe es erst richtig | |
verstanden, als ich vor ein paar Wochen vor einer Werkstatt stand und mich | |
mit dem Handwerker unterhielt, der in dieser Werkstatt arbeitet. | |
Normalerweise jedenfalls. | |
Denn an diesem Tag sagte er, er könne nicht mehr arbeiten. Aber warum denn | |
nicht, fragte ich ihn. Ich wollte etwas bei ihm in Auftrag geben. Er machte | |
eine lange Pause, also, wie soll ich es sagen, so kam es zögernd, dann eine | |
lange Pause, ich habe kein Geld mehr. | |
## Eine Pause voller Angst | |
Es war diese Pause, die mich verfolgte, in den Tagen danach. Eine Pause, | |
die eine Existenz verschluckt. Eine Pause, die gefüllt werden will. Eine | |
Pause, die voller Angst war und Unsicherheit, voller Verzweiflung und | |
Ratlosigkeit. Wie soll ich es Ihnen sagen, das waren seine Worte, als ob er | |
es sich selbst erklären musste, wie es so weit kommen konnte. Dabei wollte | |
er doch nur seine Arbeit machen, aber nun fehlte ihm das Geld, um seine | |
Materialien zu kaufen. | |
Menschen wie ihn wird es viele geben, Tausende, Hunderttausende, die mehr | |
oder weniger still vor sich hin leiden, weil die Pandemie ihre Existenz | |
zerstört hat; oder eben auch eine Politik, die für viele Menschen | |
verstörend agiert hat und stümperhaft, die Nachrichten produziert von | |
Korruption und Zaudern, die mal hart war und mal weich, die wenig | |
vorsorgend oder fürsorgend wirkt, die Widerstand produziert hat, der sich | |
bislang nur in Formen äußert, die man leicht abtun kann. | |
Und in vielem zeigt sich in diesem Widerstand auch vor allem ein Grad an | |
Weltabweichung, der möglicherweise pathologisch ist; in manchem aber zeigt | |
sich auch die Wirklichkeit wie in einem Vexierspiegel, verzerrt vielleicht, | |
aber doch die Wirklichkeit. | |
## Verzerrt, aber nicht grundlos | |
Manches ist als Symptom unangenehm oder autoritär, verschwörerisch und | |
raunend – aber manchmal ist das Symptom auch nur ein Verweis auf ein | |
Phänomen, das tatsächlich real ist, einen Zustand, eine Frage von | |
gesellschaftlicher Relevanz und mehr als eine Statistik. | |
Anders gesagt: Nur weil jemand falsch liegt, heißt das nicht, dass alles in | |
Ordnung ist. Die Ablehnung des Abseitigen produziert auch eine Gewissheit, | |
die trügerisch sein kann. In der Ablehnung konstruiert sich eine | |
Geschlossenheit, die so eigentlich nicht existiert. | |
Das war gerade mal wieder am [2][Beispiel der Schauspieler*innen zu | |
beobachten, die ironisch gegen die Coronapolitik protestieren wollten], | |
eine Aktion von orchestrierter Bescheuertheit – und gerade weil ja nicht | |
alle von denen, die da mitgemacht haben, komplette Volltrottel sind, konnte | |
man sich immerhin fragen, wie es so weit kommen konnte, [3][dass sie ihren | |
Verstand und ihr Urteilsvermögen in der Maske ließen] und nackt vor das | |
Land traten. | |
Ich fand die Aktion exemplarisch falsch und teilte auf Twitter einen | |
Thread, in dem speziell die Nähe von bestimmten Aussagen über eine | |
gleichgeschaltete Presse mit den Querdenkern beschrieben wurde. | |
## Die Macht des Irrationalen | |
Und dann bekam ich eine SMS, von eben dem Mann, der mir gesagt hatte, dass | |
ihm das Geld fehlt. Als „Gewerbetreibender und Demokrat“, schrieb er mir, | |
müsse er mir sagen, dass ich mir einen anderen Handwerker suchen müsse, | |
weil ich diesen Tweet „vollumfänglich“ unterstützt habe. Ich war ziemlich | |
sprachlos. | |
Aber, wie gesagt, Menschen brechen. Und das erzeugt scheinbar irrationale | |
Reaktionen. Es erzeugt eine Wut, die sich ihr Gegenüber sucht. Es erzeugt | |
ein toxisches gesellschaftliches Klima, wenn das alles im Schema von Freund | |
und Feind gesehen wird. | |
Der Mann, mit dem ich mich dann in der kalten Frühlingssonne unterhielt, | |
hatte mich als Gegner ausgemacht. Weil ich regierungstreu sei, unkritisch, | |
weil ich eine Politik unterstütze, die ihm schade. Ich versicherte ihm, | |
dass ich die Politik in Weitem kritisch sehe, beschrieb ihm das Versagen | |
und meine Alternativen. Er schien sich zu beruhigen, auch wenn seine Sorgen | |
nicht weggehen. | |
## Ein Schadensbericht, später | |
Der Punkt ist: Das ist erst der Anfang. Wenn der Schock nachlässt und damit | |
die Anspannung, die bislang verhindert hat, dass das Ausmaß der | |
individuellen Verwüstungen deutlich wird, dann wird sich das alles | |
wiederholen, tausendfach, hunderttausendfach. Und ich frage mich: Sind wir | |
dafür bereit? Haben wir die Zeit, die Aufmerksamkeit, haben wir die | |
Strukturen und die Ressourcen, um diesen gesellschaftlichen Totalschaden | |
erst einmal zu sehen, wahrzunehmen, anzunehmen – und dann miteinander ins | |
Gespräch zu kommen über das, was da passiert ist? | |
Es geht um Existenzen, und das ist erst einmal eine wirtschaftliche | |
Angelegenheit. Aber tatsächlich geht es auch um Existenzen im eigentlichen | |
Sinn, und dafür braucht es Foren und Formate der Fürsorge, der Offenheit, | |
des Austauschs und des Halts. Denn Menschen brechen. Was in den kommenden | |
Jahren droht, wenn wir nicht aufpassen, ist eine Austerität der Herzen, mit | |
katastrophalen Folgen. | |
29 Apr 2021 | |
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Georg Diez | |
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