| # taz.de -- Moralischer Kapitalismus: Der Sog der Finanzwelt | |
| > Enthemmt beim Erwerb – gehemmt im Genuss: Der Wirecard-Skandal zeigt | |
| > einen ökonomischen und gesellschaftlichen Widerspruch im System. | |
| Bild: Hier hat die Gier gesiegt: Wirecard in Aschheim | |
| Skandale, bei denen es um Geld, um sehr viel Geld, geht, sie reißen nicht | |
| ab. Wie jener um den Münchner Finanzdienstleister [1][Wirecard]. Er bewegt | |
| sich zwischen persönlichen Verfehlungen, Gier, kriminellen Energien, | |
| Betrug, Bilanzfälschungen und Fantasiegeschäften. | |
| Auffällig sind dabei strukturelle Verfehlungen von Aufsicht, Kontrolle und | |
| Prüfung. Aber jenseits all dessen wird gerade an diesem Skandal etwas | |
| Grundlegendes sichtbar: Hier zeigt sich ein ökonomischer und | |
| gesellschaftlicher Widerspruch im System. | |
| Auf der einen Seite gibt es ein ökonomisches System, das auf ständige | |
| Steigerung des Gewinns ausgerichtet ist. Auf Wachstum. Ohne Grenze. Ohne | |
| Ende. Ohne Bremse. | |
| Ein System, das permanent Innovation, Erweiterung und Dynamik braucht. Und | |
| fordert. Ein solches System bedarf eines entsprechenden Antriebs: Es muss | |
| Menschen in Bewegung setzen, sie animieren, sie anspornen, diese Spirale | |
| weiterzutreiben. Immer weiter. Und die Finanzwelt mit ihrem Versprechen vom | |
| leichten und schnellen Geld hat dabei (immer noch, trotz Finanzkrise) eine | |
| besondere Verführungskraft, eine besondere Anziehungskraft, ja geradezu | |
| eine Sogwirkung. | |
| ## Moralischer Kapitalismus | |
| Auf der anderen Seite gibt es berechtigte Empörung und ein viel weniger | |
| berechtigtes Erstaunen, wenn sich Dynamik als Gier, Steigerung als | |
| Regelübertretung, Innovation als Skrupellosigkeit und Beschleunigung als | |
| kriminelle Luftschlösser erweisen. Das mag empören. Aber erstaunen? | |
| All diese Übertretungen sind nicht einfach nur charakterliche Mängel. Die | |
| Leute sollen dynamisch sein – aber nicht zu viel. Gierig – aber in Maßen. | |
| Innovativ Regeln überspielen – aber moralisch bleiben. Kurzum: die | |
| psychischen Energien, die das System erhalten, sind genau jene, die es in | |
| [2][Sackgassen à la Wirecard-Skandal] manövrieren. | |
| Persönliche Verfehlungen sind gewissermaßen vorprogrammiert, wenn es – und | |
| das ist der springende Punkt – keine Gegenkräfte gibt. Zentrale Gegenkraft | |
| wäre ein Staat als Kontrollinstanz. Dieser hat aber die Tendenz, sich immer | |
| mehr darauf zu beschränken, nur die Rahmenbedingungen der ökonomischen | |
| Freiheit zu sichern. Die andere, die gesellschaftliche Gegenkraft wäre die | |
| Moral. Ein moralischer Kapitalismus? | |
| Es war der Ökonom und Soziologe Max Weber (1864–1920), der gezeigt hat, wie | |
| Moral – in dem Fall die protestantische Ethik – den Kapitalismus in seinen | |
| Anfängen zugleich befördert und gezähmt hat. Befördert, indem sie das | |
| Gewinnstreben von den traditionellen Hemmungen befreit, indem sie es als | |
| „gottgewollt“ ansah. Profit wurde damit also ethisch gebilligt. Gezähmt | |
| aber hat sie den Kapitalismus, indem der Konsum dieses Reichtums, das | |
| unbefangene Genießen, verboten wurde. | |
| ## Nach der Logik von Profit und Konkurrenz | |
| Ein Leben unter dem asketischen Verdikt sollte die Charaktere eines | |
| moralischen Kapitalismus bilden: [3][Enthemmt beim Erwerb – gehemmt im | |
| Genuss]. Eine „Erwerbsmaschine“ mit Verantwortungsgefühl, die den Profit | |
| nur gesetzmäßig „ohne Schaden für die eigene Seele und für andere“ anh�… | |
| – gegen triebhafte Habgier. | |
| Asketische Moral war also Gegengewicht zum reinen Profit. Es war eine | |
| Gesellschaft, die nach zwei Prinzipien, nach zwei Logiken funktioniert hat, | |
| die sich gegenseitig in Schach hielten. Nicht dass das ein ideales Programm | |
| gewesen wäre. Es war wahrlich kein Paradies – aber die Entwicklung seither | |
| ist alles andere als eine Verbesserung. | |
| Dieses Gegengewicht, ihre moralischen, religiösen, gesellschaftlichen | |
| Gegenprinzipien haben sich längst aufgelöst. Der siegreiche Kapitalismus | |
| bedurfte, so Weber, dieser Stütze nicht mehr. Er hat sich in ein | |
| „stahlhartes Gehäuse“ verwandelt. | |
| Es ist ein Kennzeichen des Neoliberalismus, dass wir gegenwärtig in einer | |
| Gesellschaft leben, die in allen Bereichen nur mehr einer Logik gehorcht: | |
| der Logik von Profit und Konkurrenz. Damit hat sie kaum Ressourcen, die | |
| Gier, die sie uns abverlangt, einzuhegen. An den diversen Skandalen wird | |
| dies sofort sichtbar. Eine „Erkenntnis“, für die viele Leute, Sparer, | |
| Anleger, aber auch der Staat einen hohen Preis zahlen. | |
| 22 Jun 2021 | |
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| ## AUTOREN | |
| Isolde Charim | |
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