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# taz.de -- Demokratie im Coronozän: „Wundert mich alles nicht“
> Wie geht Gemeinschaft ohne gemeinsamen Schweiß? Ist man im Supermarkt
> schon in Gesellschaft? Wann fliegt der Deckel vom Dampfdrucktopf?
Bild: Selbst auf dem Rummel rotiert jeder für sich
Schemenhaft nur zu erahnende Gesichter im Halbdunkel, die Augen auf ein
fluoreszierendes Display gerichtet, die Kappe tief ins Gesicht gezogen. Wer
sich zu Beginn des Coronozäns nicht nur auf nächtliche Spaziergänge machte,
traf meist auf personale Konstellationen wie diese. Menschen, die sich in
Hauseingänge, Parkecken oder Bushaltestellen drückten, immer auf der Hut
vor neugierigen Passanten, Nachbarn oder den zirkulierenden
Ordnungskräften. Die Pandemie zwang alle zurück in eine rudimentäre
Öffentlichkeit, die mitunter die Form einer filmreifen Proto-Verschwörung
annahm.
Versammlungen waren untersagt, infektionsfördernde Zusammenrottungen galten
tendenziell als Straftat, selbst Paare trauten sich nur mit schlechtem
Gewissen auf die Straße. Es war alternativlos, aber es war auch
gespenstisch.
Zu Beginn fügte ich mich, auch wenn es schwerfiel. Der Rückzug ins
Monadische hatte ja auch seine selbstreflexiven Vorteile: alles mal in Ruhe
durchdenken. Demokratietheoretische Bedenken wurden als intellektueller
Luxus beiseitegewischt.
## Angst vor Autokraten
Dabei lag das Dilemma, in eine Art vordemokratischen Dämmerzustand zu
sinken, auf der Hand. „Ich kann mir nicht vorstellen, dass Demokratien
überleben können, wenn sich die Menschen nicht mehr in Gruppen von mehr als
50 Menschen versammeln dürfen“, ereiferte ich mich gegenüber einer Freundin
bei unserem wöchentlichen Abstandskaffee auf dem ziemlich ausgedünnten
Wochenmarkt. Ihr machten die Autokraten, die überall die Demokratie
abwickelten, auch Angst. Trotzdem nickte sie nur halbherzig. Was angesichts
der Bilder der Intensivstationen, Beatmungsgeräte und der täglichen
Fallzahlen des vermaledeiten Virus ja auch verständlich war.
Dass ich nicht mehr direkt hinter meiner Wohnung in die Columbiahalle oder
ins Berghain feiern gehen konnte, leuchtete mir noch ein. Genauso klar war
mir aber auch, dass das nicht lange gut gehen konnte. Auf Dauer würde sich
das soziale Wesen Mensch nicht von seinem Drang zu freier Assoziation
abtrennen lassen. Eine Zukunft ohne den schwitzenden Kollektivkörper
politischer Leidenschaft? Undenkbar.
Es war also nur eine Frage der Zeit, wann und mit welchen Mischformen die
untersagte Vergemeinschaftung kompensiert werden würde. So wie bei den
Jungs in den türkischen Nachtbars, die mitternachts nebeneinander in ihren
abgedunkelten Glasbunkern mit Blickschutz zur Straße saßen.
## Zwischen Suppendosen, Äpfeln und Klopapier
Bei mir war es der tägliche Gang zum Supermarkt. Zwischen Suppendosen,
Äpfeln und Klopapier machte ich mir vor, in Gesellschaft zu sein. Manchmal
blieb ich noch ein paar Minuten an den Stehtischen vor Edeka stehen. Auch
auf die Gefahr hin, als einer der Nichtsesshaften wahrgenommen zu werden,
die dort das Terrain grummelnd nach Verwertbarem scannten.
Es ging weiter mit den konspirativen Treffs nachts im Viktoriapark, bei
denen Grüppchen kichernd im Gebüsch saßen. Hier und da hörte ich in den
höheren Stockwerken nachts Partygelächter.
„Was sollen die denn machen, wenn alle Clubs geschlossen sind? Soll das
Gesundheitsamt sie zwei Jahre lang an Bäume binden? Das ist wie in einem
Dampfkochtopf. Irgendwann verschafft sich der Druck sein Ventil“, agitierte
ich wieder meine – mittlerweile kontaktpanische – Freundin am Wochenmarkt,
während ein Ehepaar mit schwarzer Maske beim Vollwertbäcker Kirschstreusel
erstand.
„Wundert mich alles nicht“, sagte ich einem Freund, mit dem ich die
heilsgewisse Truppe von Anticoronisten mit Alupickelhaube,
Reichskriegsflagge und Friedenstaube am Brandenburger Tor beobachtet hatte.
Von den Maskenverweigerern waren mir freilich die Knicklichter schwingenden
Woodstocker aus der Hasenheide lieber, die wir in der Nacht zuvor besucht
hatten.
8 Aug 2020
## AUTOREN
Ingo Arend
## TAGS
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