| # taz.de -- Schwimmbad trotz Corona: Wie Freigang im Gefängnishof | |
| > Nervt Corona, hilft der Sprung ins blaue Nass. Sehr entspannend sind die | |
| > strengen Regeln allerdings auch nicht. Killt das Chlor wenigstens das | |
| > Corona? | |
| Bild: Relaxen im Freibad? Die Grenzen sind eng gesteckt | |
| Das Chlor killt ja das Virus. In der Hoffnung hatte ich mich gewiegt, als | |
| das Coronozän langsam, aber sicher ausbrach. Die Schwimmbäder würden sie | |
| schon nicht so schnell dichtmachen. Bis zur letzten Minute hatte ich mich | |
| in die blauen Bahnen gestürzt. Auch wenn ich mich natürlich gefragt hatte, | |
| ob ich wirklich jedes Geländer, jede Türklinke, jede Klobrille anfassen | |
| kann, wenn ich die menschenleer gewordenen, gekachelten Hallen betrat. | |
| Das war ja das Tückische an dem Coronabiest, dass man es nicht sah. Und | |
| sich der Illusion hingeben konnte, es vielleicht doch irgendwie | |
| wegimaginieren zu können. Bis dann eines Tages auch die blauen Bahnen mit | |
| dem Bann belegt wurden. Die Bäder wurden geschlossen, das hatte es selbst | |
| in der härtesten Berliner Sparkrise nicht gegeben. Und als sie wieder | |
| öffneten, war das Versprechen der großen Freiheit, das in jedem Freibad | |
| lauert, zur puren Schimäre geschrumpft. | |
| Gut, im Grunde war das ja eh immer Illusion, ein Blick auf das Schild mit | |
| der Aufschrift „Nicht von den Seitenrändern springen“ genügte, um zu | |
| wissen, dass es sich bei dem idyllischen Kiez-Utopia um ein hoch | |
| verregeltes Konstrukt handelte, bei dem die Grenzen der Freiheit schneller | |
| erreicht wurden als einem lieb sein konnte. Aber nun galt ein beispiellos | |
| striktes Reglement. Es allein zu betreten, glich einem Spießrutenlauf. | |
| Schon von Weitem waren vor unserem Lieblingsbad die sonst nur bei | |
| Verkehrsunfällen, Staatsbesuchen oder Demonstrationen benutzten, rotweißen | |
| Absperrgitter zu erkennen. Sie formten eine verdrahtete Gasse von der Art, | |
| durch die in der Antike die Gladiatoren und im Zirkus die Löwen in die | |
| Arena einmarschierten. Eine türkische Familie stand mit Kühltasche, | |
| aufgeblasenem Einhorn und Kleinkind traurig vor der Tür, weil sie das | |
| Onlineticketing nicht verstanden. Von Corona-Badewärter*Innen gut bewacht, | |
| musste ich mich am Beckenrand verschämt umziehen. | |
| ## Der panoptische Wachtturm | |
| Im Becken schwammen alle brav wie Entenkinder auf drei abgeteilten Bahnen | |
| im Kreis, schauten ständig um sich, um niemandem zu nahe zu kommen. Obwohl | |
| das Virus ja, wie gesagt, das Chlor fürchtet wie Schwimmer das Weihwasser. | |
| Und die Krise beförderte die Autoritätsfantasien. „Bitte verlassen Sie | |
| jetzt sofort die Wasserflächen und den Bereich um die Becken“ bellte der | |
| bebrillte Bademeister auf seinem panoptischen Wachtturm am Ende des | |
| Zeitfensters. „Hallo. Die andere Durchschreite benutzen!“, erwischte es | |
| eine noch etwas müde Schwimmerin, die mit hastig zusammengerafften | |
| Klamotten versehentlich durch das Wasserbecken dem Schwimmbereich hatte | |
| entweichen wollen, durch das sie hineingeschritten war. So bewegten wir uns | |
| alle wie auf ausgetretenen Ameisenbahnen, ängstlich bedacht, keinen | |
| falschen Tritt zu machen. | |
| Klar ist Distanz Überlebensbedingung und Hygiene die Mutter der Badewanne. | |
| Aber was macht es mit einem, die Nachbarn auf der Liegeweise als | |
| Gefahrenträger*Innen zu fürchten? Überwachen und baden: Es hätte keinen | |
| gewundert, hätten wir uns noch mal zu Zählappell und Abstrich versammeln | |
| müssen. „Sag bitte nichts. Macht kein’ Spaß“, seufzt Matze, als er mir … | |
| der kleinen Cafeteria mit einem Plexiglas-Visier die Bestellung abnimmt. | |
| Hastig rückt die Frau in dem grünen Trainingsanzug an dem einzigen Tisch, | |
| an dem noch ein Platz frei ist, an dessen äußerste Ecke. Die Corona-App, | |
| die ich klammheimlich öffne, zeigt keine verdächtigen Begegnungen an. | |
| Hastig schlinge ich das Frühstück herunter. | |
| Ich verlasse das Schwimmbad wie nach einem Freigang im Gefängnishof. Ich | |
| ertappte mich dabei, meine imaginäre Fußfessel abstreifen zu wollen, und | |
| verschwinde durch das Drehkreuz ins Freie. | |
| 16 Jul 2020 | |
| ## AUTOREN | |
| Ingo Arend | |
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