# taz.de -- Altbau vs. Neubau: Sehnsucht nach der Platte | |
> Die temporäre Vertreibung aus dem Paradies des sozialen Wohnungsbaus hat | |
> schweißtreibende Folgen. Wer kam bloß auf diese dumme Idee? | |
Bild: Frische Luft, Balkon und große Fenster, das vermisst der Autor im Altbau | |
Ich schwitze. Normalerweise schwitze ich nie. Auf eine etwas männermäßige | |
Art war ich immer stolz darauf, nicht zu schwitzen. So im Sinne von: Die | |
Hitze kann mir nichts anhaben. Aber [1][jetzt schwitze ich]. Und bin auch | |
noch selbst schuld. | |
Den August würde ich üblicherweise zwischen Staatsbibliothek, Prinzenbad | |
und Kreuzberger Hochhausbalkon verbringen, in dieser Reihenfolge. | |
Stattdessen sitze ich in einer dunklen Homeoffice-Hitzehölle in der | |
Kastanienallee, Hinterhaus, 5. Stock, einem Altbaudach mit winzigen | |
Klappfenstern. Nur selten verirrt sich durch sie etwas Sauerstoff. | |
Verdammt, allein meine Anwesenheit lässt die Temperaturen weitersteigen. | |
Dass Stabi [2][und Prinzenbad ausfallen, ist okay]. Ich bin nicht der Typ | |
für Timeslots und Tickets und akzeptiere die Konsequenzen. Aber wie konnte | |
ich nur so dumm sein, mitten in einer globalen Pandemie meine geliebte | |
Wohnung aufzugeben? | |
Wobei, aufgeben ist natürlich nicht ganz richtig. Meine Vermieterin – eine | |
große städtische Wohnungsbaugesellschaft – nennt es temporäre Umsetzung. | |
Nur drei Monate, um endlich einige essenzielle (Asbest) und weniger | |
essenzielle (Wasserschaden, neue Küche) Sanierungsarbeiten durchzuführen. | |
Den Termin durfte ich mir selbst aussuchen, und zwar ehrlich gesagt schon | |
seit zwei Jahren. Die gebrochenen Bodenplatten, unter denen der | |
asbesthaltige Kleber lauert? Waren doch mit Gaffer Tape gesichert, kein | |
Problem. Bis mir im Juni der verhängnisvolle Gedanke kam, für die längst | |
überfälligen Maßnahmen das Corona-Zwischentief zu nutzen. Wäre es nicht | |
schön, den nächsten Lockdown in einer neu gemachten Wohnung zu verbringen? | |
Nun sitze ich also schwitzend und etwas verloren in Prenzlauer Berg und | |
habe Sehnsucht nach meiner komfortablen Platte. | |
Das schöne Leben der schönen anderen | |
Den Systemvergleich unter Coronabedingungen gewinnt der [3][moderne | |
Wohnungsbau] spielend. Gut, im Aufzug mögen die Aerosole tanzen, aber ein | |
enges Altbau-Treppenhaus ist auch kein Frischluftkanal. Und im Hochhaus hat | |
nicht nur jede Wohnung einen Balkon, sondern auch vernünftige Fenster und | |
einen weiten Blick. | |
Neben frischer Luft ist es vor allem diese Weite, die ich vermisse. Ein | |
Nachteil meines Exils ist nämlich der Reichtum der Nachbarschaft. Rund um | |
den Hof wurden die Vorderhäuser durchgehend mit doppelgeschossigen | |
Penthouses aufgewertet. Und deren ausnahmslos schöne Bewohner*innen blicken | |
nun trotz meiner eigenen Dachlage voller Mitleid auf mich herab – wenn sie | |
nicht gerade glücklich glucksen, um mich von der Arbeit abzuhalten. | |
Inzwischen bin ich in die Küche umgezogen, wo ich auf dem Boden tippe. Dort | |
ist es etwas kühler, zumindest bis kurz nach zwölf, wenn die Sonne um die | |
Ecke wandert. Diskrete Wohlstandgeräusche, wie man sie sonst nur aus | |
gediegenen Vororten kennt, erinnern allerdings auch hier an die eigene | |
prekäre Existenz: Elektrische Rollos surren selbstständig auf und ab, hier | |
und da brummt eine Klimaanlage, und automatische Sprinkler lassen an | |
saftigen Rasen denken. Auch die Nanny von gegenüber ist weiterhin deutlich | |
zu hören. | |
Natürlich könnte ich nun aus meinem Brutkasten in den nächsten Park | |
flüchten, doch so einfach ist es nicht. Selbst wenn die Welt | |
auseinanderfällt, brauche ich eine disziplinierende Arbeitsumgebung. Ich | |
werde also mit heißem Kopf hier ausharren und voller Vorfreude daran | |
denken, dass ich eines Tages zurückkehren darf in meinen geliebten sozialen | |
Wohnungsbau. | |
23 Aug 2020 | |
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## AUTOREN | |
Stephan Becker | |
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