| # taz.de -- Regisseur Edgar Reitz: „Ich glaube an Mündigkeit, an die Intelli… | |
| > Der Regisseur Edgar Reitz, inzwischen 93 Jahre alt, träumt von seinen | |
| > Figuren. Warum sich sein neuer Kinofilm um den Philosophen Leibniz dreht. | |
| Bild: Chiaroscuro-Beleuchtung: Gottfried Wilhelm Leibniz (Edgar Selge) und Aalt… | |
| taz: Herr Reitz, Ihr neuer Film handelt von Gottfried Wilhelm Leibniz. Was | |
| hat Sie an dieser Figur gereizt? Und wie kam Ihr Film zustande? | |
| Edgar Reitz: Ich habe über zehn Jahre an dem Thema gearbeitet. Anfangs | |
| wollte ich ein großes Biopic machen, ein Zeitbild einer nach 30 Jahren | |
| Krieg verwüsteten Welt. Aber ich merkte, dass ich damit in | |
| Hollywood-Dimensionen komme. Stattdessen entstand die jetzige Geschichte | |
| ganz unvermittelt am selben Tisch, an dem wir dieses Gespräch hier führen. | |
| Als wir die Leibniz-Geschichte eigentlich aufgeben wollten, sagte mein | |
| Produzent Ingo Fliess: „Worum es mir besonders leidtut, ist die | |
| Anfangsszene, in der Leibniz porträtiert wird.“ Also setzten wir uns wieder | |
| und dachten darüber nach, ob diese Szene ausbaufähig ist und ob sie sich | |
| eignet, Leibniz zur Kinofigur zu machen. | |
| taz: Wie haben Sie sich der Leibniz-Figur schließlich inszenatorisch | |
| genähert? | |
| Reitz: Ich wollte nicht über Leibniz erzählen, sondern aus ihm heraus. Mein | |
| Hauptdarsteller Edgar Selge und ich haben uns ein Jahr lang mit der Figur | |
| auseinandergesetzt. Dabei ist eine intensive E-Mail-Korrespondenz | |
| entstanden. Ich habe ein Buch zusammengestellt, eine Nacherzählung des | |
| Films, die soeben erschienen ist. Darin sind viele dieser Briefe | |
| abgedruckt. Unsere Grundlage war aber das Drehbuch von Gert Heidenreich, | |
| das sozusagen den Leibniz in uns zum Leben erweckte. | |
| taz: Was zeichnet Edgar Selge, der Leibniz in Ihrem Film verkörpert, in | |
| seiner Rolle aus? | |
| Reitz: Er hat ein sehr feines Verhältnis zur Sprache. Ich habe ihn einmal | |
| Rilkes „Duineser Elegien“ rezitieren hören – mit einer Klarheit, die sel… | |
| die rätselhaftesten Passagen verständlich macht. Und dazu kommt: Selge ist | |
| auch selbst Autor. Er weiß, was ein Satz ist, was ein Wort bedeutet. Dieses | |
| gesteigerte Sprachbewusstsein macht ihn ideal für die Leibniz-Rolle. | |
| taz: Ein Film wie Ihrer, der dem Denken einer Philosophenfigur wie Leibniz | |
| gewidmet ist, steht vor der Herausforderung, das Denken sichtbar zu machen, | |
| ihm bildlich Gestalt zu verleihen. Wie haben Sie das umgesetzt? | |
| Reitz: Man kann Denken nicht darstellen – der Schauspieler muss tatsächlich | |
| denken. Die Kunst besteht darin, einen einstudierten Text so wiederzugeben, | |
| dass er zum Abenteuer wird. Man hat dann das Gefühl, dass er gerade erst | |
| entsteht. Ich kenne das aus der Musik: Ein genialer Pianist kann eine | |
| Beethoven-Sonate so spielen, als entstünde das Werk gerade in diesem Moment | |
| unter seinen Händen. Es entsteht ein Risiko, ein Raum für endlose | |
| Möglichkeiten. | |
| taz: Sie inszenieren Ihren Film komplett im Studio, ohne Realkulissen. | |
| Warum? | |
| Reitz: Ich habe eine große Motivsuchreise gemacht. Aber was ich fand, war | |
| alles museal, steril. Ich wollte eine Umgebung, die authentisch ist. Also | |
| beschlossen wir, das Set im Studio zu bauen. Aber dann sah ich mich vor | |
| einem neuen Problem: Im Studio ist alles so, wie man es sich ausgedacht | |
| hat. Alles ist Wille. Und das genügt mir nicht. Ich brauche Widerstände, | |
| Zufälle. | |
| taz: Wie haben Sie die Räume lebendig gemacht? | |
| Reitz: Wir haben gesagt: Diese Räume hat Leibniz vielleicht einmal bewohnt, | |
| aber seit zwanzig Jahren nutzt sie die Gärtnerei als Lager. Dann haben wir | |
| sie mit Dingen überzogen, die nichts mit unsrer Filmhandlung zu tun haben. | |
| Geräte, Gerümpel, Spuren von Vergangenheit. Noch während der Dreharbeiten | |
| haben Requisiteure immer wieder Neues hineingeschmuggelt. So bekam der | |
| Studiobau ein wenig Eigenleben. Und mit den Schauspielern zusammen konnte | |
| ich unbekannte Räume erkunden. Wie man sich hinsetzt, woran man sich stößt, | |
| das beeinflusst das Spiel und macht es lebendig. | |
| taz: Das gesamte schauspielerische Ensemble wirkt tief in der Materie. Wie | |
| gingen Sie bei der Schauspielführung im Fall dieses historischen Stoffs | |
| vor? Eine besondere Rolle hatten sicherlich die beiden Maler-Darsteller | |
| Aenne Schwarz und Lars Eidinger. | |
| Reitz: Das war für mich eine besondere Erfahrung. Bei Aenne Schwarz etwa | |
| musste ich lernen, dass sie vollkommen intuitiv arbeitet. Sie reagierte wie | |
| ein Seismograf auf den Raum, auf Objekte, auf Atmosphären, sobald sie im | |
| Raum war, geschah auch mit ihren Mitspielern etwas, das man nicht | |
| vorhersagen kann. Besonders gern arbeitete ich auch mit Lars Eidinger, den | |
| man ja als Starschauspieler kennt. Er war völlig frei von Eitelkeit, | |
| hochkonzentriert, offen, nie arrogant. Das war ein Geschenk. | |
| taz: Ihr Film besitzt eine überaus komische Qualität. Eine Szene am Anfang | |
| zeigt das besonders: Der Hofmaler bittet Leibniz, beim Porträt bitte „an | |
| nichts zu denken“. | |
| Reitz: Einem Philosophen zu sagen, er solle nicht denken, das ist ein | |
| starkes Stück, das reizt zum Lachen. Und Edgar Selge spielt das großartig: | |
| Er bemüht sich brav, die Anweisungen umzusetzen. Die Komik entsteht durch | |
| Genauigkeit, durch eine sehr genaue Betrachtung. Und das Publikum reagiert | |
| darauf. Bei der Premiere auf der Berlinale wurde viel gelacht. | |
| taz: In einer Szene des Films ist „vom Malen mit Licht die Rede“. Eine | |
| Referenz handelt darin von der Chiaroscuro-Technik der Renaissance. Das | |
| „Malen mit Licht“ ist aber auch Ihre Definition vom Kino, oder? | |
| Reitz: Ja, das Licht ist für mich ein elementares Mittel des Kinos. Die | |
| alten Kinos hießen ja nicht umsonst „Lichtspielhäuser“. Das Licht auf der | |
| Leinwand, das ist der eigentliche Träger des Bildes. Und in der Malerei war | |
| es Caravaggio, der das Malen mit Licht erfunden hat – dieses gerichtete, | |
| dramatische Licht, das wir versuchten, nachzuahmen. | |
| taz: Was war bei Ihrem Film, der so zentral von der Malerei handelt, im | |
| Hinblick auf die Ästhetik, auf die farbliche Gestaltung wichtig? | |
| Reitz: Das Licht muss glaubwürdig sein. Wir Filmleute verwenden immer nur | |
| elektrisches Licht. Aber in der Zeit von Leibniz gab es nur Tageslicht. Die | |
| alten Ateliers hatten hochgelegene Fenster, damit das Licht von schräg oben | |
| einfällt. So eines haben wir im Studio nachgebaut. Unser Licht kam fast | |
| ausschließlich von draußen. | |
| taz: Als Zuschauer wohnt man auf fast schon intime Weise dem Geschehen bei. | |
| Woher kommt diese Wirkung? | |
| Reitz: Man wird es kaum glauben, aber die Intimität entsteht auch durch die | |
| Wahl des Objektivs. Ich wählte ein 40-mm-Objektiv, denn das entspricht | |
| ziemlich genau den Abbildungsproportionen des menschlichen Auges. Ein | |
| weiteres Mittel war die Wahl der Farben. Unsere Wände sind in einem | |
| grün-blauen Farbton gehalten, der mehrfach übermalt wurde, bis er eine | |
| eigene Haptik hatte. Die Farbigkeit musste aus der Zeit von Leibniz stammen | |
| oder zumindest so wirken. | |
| taz: Ihr Film wendet sich konzentriert sehr menschlichen Aspekten zu. | |
| Fehlen die im heutigen Kino mit seinem Event-Charakter? | |
| Reitz: Man macht Filme für seinen Anteil an der Welt. Ich träume nachts von | |
| meinen Figuren, ich wache mit Bildern auf. Die Frage, ob mein Film sich am | |
| Markt bewährt, ist mir in solchen Momenten völlig egal. Ich will Filme | |
| machen, die berühren, die herausfordern. Ich bin beunruhigt darüber, dass | |
| es so viele Menschen gibt, die nicht mehr ins Kino gehen, weil sie sich | |
| dort intellektuell unterfordert fühlen. | |
| taz: Hat die Philosophie Leibniz ’ aus Ihrer Sicht eine politische | |
| Dimension? | |
| Reitz: Leibniz wollte bereits ein europäisches Schiedsgericht in Amsterdam | |
| einrichten. Heute steht so etwas in Den Haag – aber viele Staaten erkennen | |
| es nicht an. Leibniz dachte Europa als zivilisatorisches Projekt. Er war | |
| überzeugt davon, dass der Mensch nicht nur aus Notwendigkeit denkt, sondern | |
| auch aus Freude. Denken macht den Menschen frei. Und das ist ein zutiefst | |
| politischer Gedanke. | |
| taz: Die Aufklärung, wie Leibniz sie in seinem philosophischen Werk | |
| vertrat, scheint heute brüchig geworden. Was kann man ihr noch abgewinnen? | |
| Reitz: Das Projekt Aufklärung, das von Leuten wie Leibniz in die Welt | |
| gesetzt wurde, ist für mich immer noch eine der größten und schönsten | |
| Aufgaben der Menschheit. Unter Vernunft verstehen wir heute vor allem die | |
| praktische Vernunft, nicht im Sinne eines dogmatischen Rationalismus. Ich | |
| glaube an Mündigkeit, an Empathie, an die Intelligenz des Machens, der | |
| schöpferischen Fantasie. Diese Fähigkeiten sind bedroht. Leibniz steht für | |
| ein Denken, das versöhnt, nicht spaltet. Das ist ein Denkstil, den wir | |
| heute wieder brauchen. | |
| taz: Wie geht es weiter für Sie? | |
| Reitz: Ich arbeite im Moment an einem Drehbuch, über das ich nicht sprechen | |
| möchte. Es ist eine bange Frage – ich bin fast 93 –, ich weiß nicht, wie | |
| lange ich noch durchhalte. Natürlich muss ich damit rechnen, dass es | |
| irgendwann nicht mehr geht. Aber nichts zu tun, halte ich in meinem Alter | |
| für gefährlich. | |
| 15 Sep 2025 | |
| ## AUTOREN | |
| Chris Schinke | |
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