| # taz.de -- Ästhetik der „Heimat“-Reihe von Reitz: Der Wegweiser | |
| > Edgar Reitz nahm mit der „Heimat“-Reihe die Ästhetik und Erzählweise | |
| > moderner US-Serien vorweg. Abgeschlossene Folgen sind überflüssig. | |
| Bild: Szene aus „Die andere Heimat“ von Edgar Reitz. | |
| Was sind wir mündigen deutschen Fernsehzuschauer neidisch, wenn wir über | |
| unseren TV-Tellerrand schauen: Da entwickelt sich um uns herum eine der | |
| spannendsten Epochen der seriellen Erzählkultur, eine neue Qualität des | |
| Umgangs von Geschichten und Geschichte. Sie weiß mehrdeutig und | |
| unterhaltsam die Komplexität der Welt zu vermitteln – und die hiesige | |
| Senderlandschaft hat diese Entwicklung weitgehend verschlafen. | |
| Es gibt Ausnahmen wie die Polizeiserie „Kriminaldauerdienst“ von Orkun | |
| Ertener im ZDF, und Dominik Grafs Gangster-Epos „Im Angesicht des | |
| Verbrechens“ in der ARD. Deren Schaffen in allen Ehren, doch von den großen | |
| gesellschaftlichen Erzählungen der Gegenwart sind diese deutschen | |
| Leuchtturmprojekte weit entfernt. Die HBO-Serien „Boardwalk Empire“, | |
| „Deadwood“ oder „The Wire“ wussten über viele Jahre und Staffeln hinwe… | |
| gesellschaftliches oder historisches Panorama zu entfalten. Und „Mad Men“ | |
| schlüsselte die Geschichte der modernen westlichen Gesellschaft anhand der | |
| Ereignisse im Leben des Personals einer New Yorker Werbeagentur in den | |
| 1960er Jahren auf. | |
| Die gefeierten US-Serien tauchen tief in die von ihnen geschilderten | |
| Milieus ein. „The Wire“ beispielsweise spielt in der Szene schwarzer | |
| Drogendealer, weißer Hafenarbeiter, windiger Lokalpolitiker und | |
| überforderter Polizei- und Schulbehörden in der im Verfall begriffenen | |
| US-Stadt Baltimore. Die Macher setzten dabei zum Teil auf Laiendarsteller, | |
| die den lokalen Slang der Straße so originalgetreu sprechen, dass er sogar | |
| Muttersprachler vor Herausforderungen stellt. Jede Staffel widmete sich | |
| einem Mikrokosmos mit vielen Charakteren. So entstand eine Erzählform, die | |
| keine abgeschlossenen Folgen mehr kannte, kein Anfang und kein Ende, die | |
| nicht zwischen Haupt- und Nebenfiguren unterschied, sondern seine Handlung | |
| im Fluss der Zeit vorantreibt. | |
| Ob es nun tragisch, lustig oder einfach bezeichnend ist, dass genau diese | |
| narrativen und ästhetischen Merkmale eigentlich schon vor dreißig Jahren | |
| für das deutsche Fernsehen etabliert wurden, sei dahingestellt. Fakt ist, | |
| dass der Filmemacher Edgar Reitz 1984 den ersten Zyklus - heute würde man | |
| es „Staffel“ nennen - seiner „Heimat“-Erzählung vorlegte. Über elf | |
| Langspielfilme erzählen die Geschichte des fiktiven Dorfs Schabbach im | |
| Hunsrück und seiner Bewohner vom Ende des Ersten Weltkrieges bis in die | |
| Gegenwart. | |
| ## Fesselnd, auch ohne Höhepunkte | |
| Reitz kommt aus dem Umfeld des „Neuen Deutschen Films“, und gehört zu den | |
| Filmemachern, die 1962 im „Oberhausener Manifest“ erklärt hatten, dass | |
| „Papas Kino“ tot sei. Er hatte das außerordentliche Projekt in einer | |
| künstlerischen Krise entwickelt und über vier Jahre in seiner alten | |
| Heimatregion verwirklicht. Als Dreh- und Angelpunkt seiner Zeitreise hat er | |
| die im Dorf ansässige Familie Simon gewählt, deren Mitglieder er über | |
| Jahrzehnte durch die deutsche und Weltgeschichte begleitet. | |
| Die Episoden, die immer wieder aus der Enge des Dorfes in die Welt | |
| hinausführen, setzen auf die Inszenierung der Lebenswirklichkeit und | |
| fesseln auch ohne dramatische Höhepunkte. Dass Reitz auf Laiendarsteller | |
| setzt und die Charaktere im Dialekt sprechen lässt, gehört ebenso zu den | |
| Merkmalen seines Werkes wie die filmische Ästhetik, die sich vom | |
| Fernsehbild abhebt. | |
| Jede Folge sahen neun Millionen Zuschauer „Heimat 1“. So konnte Reitz 1992 | |
| „Die zweite Heimat“ verwirklichen, in der er über 13 Episoden die | |
| Erlebnisse des Komponisten Hermann Simon während seiner Zeit in München der | |
| 1960er Jahre abbildete. Zahlreiche nationale und internationale Preise | |
| standen einer mittelmäßigen Quote gegenüber. Die blieb auch in „Heimat 3“ | |
| von 2004, der in der Dekade nach der Wiedervereinigung spielt, hinter den | |
| Erwartungen der Verantwortlichen zurück. | |
| Im letzten Jahr ist Edgar Reitz nach Schabbach zurückgekehrt. In „Die | |
| andere Heimat - Chronik einer Sehnsucht“ erzählt er ein düsteres Prequel, | |
| also die Vorgeschichte seiner „Heimat“-Reihe. Angesiedelt inmitten der | |
| ländlichen Armut der Jahre 1842 und 1845 stellt er den Traum der Hauptfigur | |
| Jakob Simon in den Mittelpunkt, das Land in Richtung Brasilien zu | |
| verlassen; die Geschichte Deutschlands als Migrationsgeschichte. | |
| ## Von wegen provinziell | |
| Dass Reitz „Die andere Heimat“ dieses Mal nicht im Fernsehen, sondern als | |
| vierstündigen Spielfilm für das Kino realisierte, wirkt im Zuge der Suche | |
| nach dem großen Serienroman aus Deutschland absurd. „Ich habe schon seit | |
| Anfang der achtziger Jahre mit der Leidenschaft für das Kino gearbeitet, | |
| obwohl ich mit den Möglichkeiten des Fernsehens produziert habe. Aber vom | |
| ästhetischen oder auch technischen war das immer für die Kinoleinwand | |
| gedacht“, erklärt Reitz seine Entscheidung. | |
| „Ich habe mit 35-Millimeter-Film gearbeitet, ich habe mich an den Maßstäben | |
| auf dem internationalen Gebiet der Filmkunst gemessen, und bin mit diesen | |
| Filmen auch auf die großen Filmfestivals gezogen.“ Doch die Frustration | |
| über die Ansicht zahlreicher Fernsehverantwortlicher, die seine Arbeit als | |
| „provinziell“ und lediglich für das Regionalprogramme geeignet hielten, | |
| kann er nicht verbergen. | |
| ## Filmpreis zur Genugtuung | |
| Dass es gerade regionale Bezüge in der Narration moderner Serien sind, die | |
| vom Publikum geschätzt werden, scheint von Verantwortlichen ignoriert zu | |
| werden. „Borgen“ aus Dänemark, „Top Of The Lake“ aus Neuseeland oder | |
| „Hatufim“ aus Israel beispielsweise sind international beliebt. | |
| „Ich habe den Eindruck, dass das zwar schon beim Publikum angekommen ist, | |
| vor allem beim jungen, aber nicht in den Redaktionen unserer | |
| Fernsehanstalten. Die haben ebenso wenig wie damals kapiert, welche Chancen | |
| in der großen epischen Erzählweise liegen, die im Übrigen ja auch eine | |
| Freiheit für die Autoren beinhaltet. So etwas lässt sich nicht durch | |
| Bevormundung der Autoren und Gängelung der Produktionen bewerkstelligen, | |
| wie es heute bei Fernsehproduktionen üblich ist. Diese Freiheit für die | |
| Entwicklung hat das deutsche Fernsehen nicht zuwege gebracht“, sagt Reitz. | |
| Eine Genugtuung für den 81-jährigen Filmemacher ist der Deutsche Filmpreis, | |
| den er im Mai mit „Die andere Heimat“ als „Bester Film“ erhielt. Über … | |
| DVD (ab 10. Juli) kann der Film seinen Weg auf den heimischen TV-Bildschirm | |
| finden. Sie ist schließlich das Medium, über das der Großteil der mündigen | |
| Zuschauer aus Deutschland auch „The Wire“ und „Mad Men“ konsumiert habe… | |
| 8 Jul 2014 | |
| ## AUTOREN | |
| Jens Mayer | |
| ## TAGS | |
| US-Serie | |
| Edgar Reitz | |
| Edgar Reitz | |
| Dominik Graf | |
| Dialekt | |
| Filmstart | |
| Breaking Bad | |
| ZDF | |
| US-Serie | |
| Redtube | |
| ## ARTIKEL ZUM THEMA | |
| Regisseur Edgar Reitz über Corona-Krise: „Abschottung gibt es nicht“ | |
| In der Pandemie lebt die Menschheit zum ersten Mal wirklich global, sagt | |
| Filmemacher Edgar Reitz. Er erhält den Ehrenpreis des Deutschen | |
| Filmpreises. | |
| WDR-Reihe zum Deutschem Film: Feindbild Oberhausen | |
| Dominik Graf will im WDR die deutsche Filmgeschichte neu schreiben: An | |
| sechs Abenden zeigt der Sender Grafs Filmessays und deutsche Klassiker. | |
| Petition der Muettersproch-Gsellschaft: E feschti Sendestund | |
| Die Muettersproch-Gsellschaft will mehr Radiosendungen auf Alemannisch. | |
| Klingt nach Kleingartenkrieg. Es geht aber um mehr. | |
| Filme über das Berliner Kulturprekariat: Das Nichts der Freiheit | |
| Die Filme „Umsonst“ und „Ich will mich nicht künstlich aufregen“ beleu… | |
| Lebensentwürfe der Berliner Kreativszene. | |
| Redaktionsbesuch bei den Serienjunkies: Erfolgsvorhersage schwierig | |
| Diese Woche verkünden US-Sender, welche Serien kommende Saison laufen. Auch | |
| in Deutschland ist das Interesse riesig. | |
| Remake von „Ein Fall für zwei“: Männer im besten Sinne | |
| Gerade abgesetzt, schon wieder da: Die Neuauflage des Krimi-Klassikers „Ein | |
| Fall für zwei“ startet. Klingt öde, kann man sich aber angucken. | |
| Zensur von US-Serie in China: Erfolg verboten | |
| China verbietet Videoportalen die Ausstrahlung der US-Sitcom „The Big Bang | |
| Theory“ – nicht aus politischen Gründen, sondern wegen zu vieler Klicks. | |
| Abmahnungen wegen Filesharing 2013: Viel Post für Serienjunkies | |
| Mehr als 100.000 Abmahnungen wurden im Jahr 2013 verschickt, schätzt eine | |
| Initiative. Populär waren US-Serien und Blockbuster. |