| # taz.de -- WDR-Reihe zum Deutschem Film: Feindbild Oberhausen | |
| > Dominik Graf will im WDR die deutsche Filmgeschichte neu schreiben: An | |
| > sechs Abenden zeigt der Sender Grafs Filmessays und deutsche Klassiker. | |
| Bild: Das ist tatsächlich Marius Müller-Westernhagen, 1977, in „Aufforderun… | |
| „Der deutsche Film ist tot. Totgefördert. Totgescriptet. Totgequatscht. | |
| Totproduziert. Totunterrichtet …“ | |
| Dominik Graf, Deutschlands erster Kriminalfilmer, ist inzwischen außerdem | |
| der erste Essayfilmer des Landes. Seine liebste Perspektive ist dabei die | |
| des enttäuschten Liebenden, des mutwilligen Defätisten. In „Es werde | |
| Stadt!“ (2014) erzählte er parallel den Niedergang der Stadt Marl und des | |
| deutschen Fernsehens. | |
| Zwei in den beiden vergangenen Jahren auf der Berlinale gezeigte Filme | |
| handelten dann vom Niedergang des deutschen Films. Schon wieder war früher | |
| alles besser. Aber Graf jammert auf hohem Niveau – originell und mit | |
| steilen Thesen. „Verfluchte Liebe deutscher Film“ und „Offene Wunde | |
| deutscher Film“ (beide mit Co-Regisseur Johannes F. Sievert) wollen nicht | |
| weniger als die deutsche Filmgeschichte nach dem Zweiten Weltkrieg neu | |
| schreiben. | |
| Das bekannte Narrativ geht ja so: Nach 1945 haben die einschlägig | |
| vorbelasteten Regisseure einfach weiter gemacht und jeden Wunsch nach | |
| Verdrängung mit ihren Arztfilmen, Schlagerfilmen, Försterfilmen, | |
| Sissi-Filmen erfüllt. Dann, endlich, 1962, erklärten Alexander Kluge, Edgar | |
| Reitz, Peter Schamoni und die weiteren Unterzeichner des Oberhausener | |
| Manifests Papas Kino für tot. Und der gute, der gesellschaftskritische | |
| Junge deutsche Film war geboren. | |
| ## Söhne reicher Eltern | |
| Von wegen: „Der deutsche Film war wirklich fabelhaft – bevor die | |
| Oberhausener kamen!“, sagt der Regisseur Klaus Lemke: „Das waren Söhne | |
| reicher Eltern, die nichts anderes wollten, als ihren Abituraufsatz nochmal | |
| schreiben.“ Und Graf raunt sekundierend aus dem Off: „Waren die | |
| Oberhausener eher wie Jugendliche, die sich vor dem Sex ihrer Eltern | |
| ekeln?“ | |
| Nun muss man wissen, dass Klaus Lemke jederzeit bereit ist, gegen alles und | |
| jeden zu stänkern (außer gegen Robert Mitchum). Und dass er mit Rudolf | |
| Thome, May Spils, Roger Fritz und anderen zur Münchner Gruppe gehörte, die | |
| sich schon in den 1960er Jahren als hedonistische Antithese zu den | |
| verkopften Oberhausenern verstand. Aber man kann sich ja mal darauf | |
| einlassen. Sich also erzählen lassen von einem „Großmeister wie Helmut | |
| Käutner, dessen kunstvoller Kinofilm ‚Die Rote‘ mit Ruth Leuwerik auf der | |
| Berlinale 1962 gnadenlos von den Oberhausenern ausgepfiffen worden war.“ | |
| Von Rolf Olsen und von an italienische Giallos angelehnten Genrefilmen wie | |
| „Blutiger Freitag“ (1972). Von „Raimund Harmstorf in der engsten Lederhose | |
| der bekannten deutschen Filmgeschichte“. Von Roland Klick, der „New | |
| Hollywood ’n paar Jahre vor New Hollywood“ gemacht hat und der Größte von | |
| allen geworden wäre – wäre er nicht auf Bernd Eichinger getroffen. Von | |
| schmutzigen, räudigen, fantastischen Filmen voller Sex und Gewalt, die der | |
| „ideologische Mainstream“ als „reißerisch“, „spekulativ“ oder gar | |
| „postfaschistisch“ abtat. | |
| So wie „Mädchen mit Gewalt“ (1970), über den das Lexikon des | |
| internationalen Films also urteilte: „Zynischer Reißer, mit dem Roger Fritz | |
| vollends in die Niederungen kommerzieller Spekulation gerät.“ Über den bei | |
| Graf nun gesagt wird: „Einer der ganz großen deutschen Filme dieser Zeit. | |
| Weil er alles riskiert und alles aufs Spiel setzt.“ | |
| ## Fernsehen so tot wie Marl | |
| Das Fernsehen liegt danieder wie die Stadt Marl, hat Graf konstatiert, aber | |
| es rafft sich noch einmal auf. Man kann es kaum glauben und gar nicht genug | |
| lobpreisen. Der WDR zeigt in den kommenden zwei Wochen nicht etwa nur die | |
| beiden Graf-Dokus, sondern auch sechs Spielfilme (von Klaus Lemke, Wolfgang | |
| Petersen, Peter F. Bringmann und jenem Roger Fritz) aus den Jahren 1969 bis | |
| 1987. Auf dass sich der mündige Zuschauer selbst ein Bild mache – etwa von | |
| „Mädchen mit Gewalt“, Dienstagabend. | |
| Es geht los wie in Bertrand Bliers „Les Valseuses“/“Die Ausgebufften“ | |
| (1974): Zwei dauergeile Hallodris sind hinter jedem Minirock und Minikleid | |
| her. „Les Valseuses“ wurde bald ein „Kultfilm“, Depardieus und Dewaeres | |
| Übergriffe als respektloser Nonkonformismus gefeiert. In Berlin heißt heute | |
| ein Lokal nach dem Film. „Mädchen mit Gewalt“ brachte zwar Hauptdarsteller | |
| Klaus Löwitsch den Bundesfilmpreis ein, landete aber im Giftschrank – ist | |
| jetzt tatsächlich erstmals im Fernsehen zu sehen. | |
| Es ist ein harter, schwer auszuhaltender Film. Die beiden Hallodris | |
| (Löwitsch und Arthur Brauss) fahren mit einem jungen Mädchen (Fritz' | |
| damalige Ehefrau Helga Anders) zu einer Kiesgrube, um es zu vergewaltigen. | |
| Fritz zeigt die Vergewaltigung, das Davor und das Danach, in beinahe | |
| echtzeitlicher Ausführlichkeit. Macht ihn das bereits zum Voyeur? Er | |
| beschönigt nichts, die Vergewaltigung wird von allen Beteiligten als solche | |
| bezeichnet. #MeToo und der neue Zeitgeist: Könnte es möglicherweise sein, | |
| dass Roger Fritz‘ „Mädchen mit Gewalt“ am Ende weniger frauenverachtend … | |
| als „Les Valseuses“? | |
| Und apropos Klaus Löwitsch: diese sagenhafte virile Körperlichkeit des | |
| kleinen Mannes mit der Glatze, des ausgebildeten Tänzers! „In Deutschland | |
| ist die Physis immer unterschätzt worden“, sagt Roland Klick in „Verfluchte | |
| Liebe …“. Götz George ist fort – wer steht denn im deutschen Film heute … | |
| Physis? Til Schweiger? Mit seiner modellierten, epilierten Designerbrust? | |
| Ja, da ist der deutsche Film wohl tot. | |
| 19 Feb 2018 | |
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| Jens Müller | |
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