# taz.de -- Die Filme von Klaus Lemke: Sylvie auf dem World Trade Center | |
> Seine Filme verbanden Punkenergie mit Passion. Oft drehte er ohne | |
> Drehbuch und mit Laien. Gerade das macht den Charme des Werks von Klaus | |
> Lemke aus. | |
Bild: Dieses Bild entstand 2010, als Lemke mit dem Filmpreis München ausgezeic… | |
So einen Gast bedienen die Kellner des piekfeinen Etablissements ungern: | |
Sylvie (Sylvie Winter), ein Fotomodell Anfang 20, bestellt sich Ketchup zu | |
ihren Schnecken, dazu eine Flasche Champagner. „Haben Sie bei dem | |
Champagner einen besonderen Wunsch?“, fragt der Ober. „Eine volle Flasche�… | |
antwortet Sylvie. | |
Nach der zweiten stützen die Kellner die junge Frau beim Verlassen des | |
Restaurants, und setzen sie in das Taxi von Paul (Paul Lys). So kommt es zu | |
einer folgenschweren Begegnung: Das Model, um dessen Hand kurz zuvor ein | |
reicher, älterer Herr angehalten hatte, und der Tagedieb-Taxifahrer, der | |
eigentlich Seemann ist, tauschen brennende Blicke. Doch ihre Gespräche, | |
stark eingetrübt von zunächst Sylvies, später Pauls Alkohollevel, sind | |
banales Geplänkel. Wie das eben so ist. Denn für das Leben gibt es kein | |
Drehbuch. | |
In den Jahren 1972, 1973 und 1974 hat Klaus Lemke drei wunderschöne, | |
knallharte und weitgehend [1][drehbuchfreie Fernsehfilme] gedreht: In | |
[2][„Rocker“] rächt ein Hamburger Rocker den Tod eines jungen | |
Kleinkriminellen (Paul Lys); in „Sylvie“ entscheidet sich die Protagonistin | |
für den Seemann, der sie am Ende betrunken verlässt; und in „Paul“ torkelt | |
der auch wieder von Paul Lys gespielte Namensgeber als die Welt nicht mehr | |
begreifender Ex-Knasti durch einen von Schnaps angefeuerten Gewalt-Binge. | |
## Die Dialekte der Improvisation | |
Lange bevor „Dogma“-Filme auf Authentizität setzten, ließ Lemke, der am 8. | |
Juli mit 81 Jahren starb, seine Laiendarsteller:innen improvisieren. | |
Ihre Dialekte (Lys kam aus Hamburg, die Lemke-Schauspielerin Cleo | |
Kretschmer, mit der der Regisseur zeitweilig liiert war, hört man den | |
bayerischen Hintergrund an) gestalteten die Figuren mit, meist waren die | |
„echten“ Leben der Darsteller:innen eh die Grundlage für die Filmideen: | |
Sylvie Winter arbeitete als Model, Paul Lys war angeblich bei einigen | |
Szenen in „Paul“ so betrunken, dass der Regisseur ihn buchstäblich vor die | |
Kamera schubsen musste. | |
Vor allem aus Lemkes Werk der 70er Jahre spricht trotz der vielen bitteren | |
Story-Aspekte eine jugendliche Unverfrorenheit und Leichtigkeit, die davor | |
höchstens in der Nouvelle Vague oder in dem [3][überschaubaren Werk von May | |
Spils] zu finden war. Dazu bewies Lemke in genauen, nahen Milieuporträts | |
seine Hingabe an die Authentizität; seine Liebe zum Genre zeigte sich in | |
seinen Story(skizzen), die ihn mit Regisseuren wie Roland Klick oder | |
[4][Rudolf Thom]e verband. | |
Lemkes Figuren sind Getriebene – aber sie lassen sich gern treiben. In | |
„Sylvie“ fährt Paul das vor der Hochzeit geflohene Model auf dem Weg zum | |
Fotoshooting in New York zum Flughafen, und spinnt dabei unablässig | |
belangloses Seemannsgarn. Kurz vor dem Boarding-Aufruf küsst er sie | |
plötzlich. Sie lässt es geschehen, und antwortet auf seine Frage, ob sie | |
wiederkommt, mit „Nein“. | |
Lemkes Editor Peter Przygodda (der auch fast alle Wim-Wenders-Filme | |
schnitt) hat eine beeindruckende Totale des World Trade Center | |
angeschlossen: Die aus einem Hubschrauber filmende Kamera schraubt sich | |
langsam an den im Sonnenlicht gelblich glänzenden Türmen hinauf, die bei | |
den Dreharbeiten noch nicht offiziell eröffnet waren – Lemke hatte in | |
Kamikazemanier ohne Genehmigung gefilmt. | |
Hoch oben auf dem Dach des einen Twin Tower sieht man, erst als kleinen | |
Punkt, dann näher, wie eine Frau wild herumhüpft, sich dreht, und ein | |
Fotograf sie dabei knipst. Es ist Sylvie, die später in 415 Metern Höhe auf | |
einer Balustrade herumlungert und von ihrem Flirt mit dem Taxifahrer zu | |
Hause in München berichtet. „Jetzt will ich doch wieder zurück“, sinniert | |
sie. Darunter hat Lemke die spannungsvoll-rhythmischen Anfangstakte von | |
„Masterpiece“, einem Song der Temptations gelegt. Zusammen ergibt all das | |
eine eindrucksvolle, ikonische Szenerie, für die man gehörig Traute | |
braucht. | |
## Ein Selfmade-Macho | |
Obwohl Lemke wohl eher „Eier“ gesagt hätte. Der 1940 im heutigen Polen | |
geborene und in Düsseldorf aufgewachsene [5][Underground-Regisseur gab | |
leidenschaftlich gern den trockenen Selfmade-Macho]. 2015 sagte er zu einem | |
Fernsehreporter: „Meine Markenzeichen sind meine Mütze, meine | |
Kurzsichtigkeit, und das dritte: Ich tu zweimal täglich onanieren.“ Er | |
steht dabei lässig in Jeans und T-Shirt neben dem konsternierten | |
Journalisten, der das Gespräch schnell auf Lemkes Entwicklung als Regisseur | |
umschwenkt. | |
„Ich war hässlich und bin nicht an die Mädchen rangekommen“, das sei der | |
Grund für seine Berufswahl gewesen, erzählt Lemke. Nach einem abgebrochenen | |
Philosophiestudium und ein paar Erfahrungen als Regieassistent am Theater | |
begann er mit 25 Jahren, Filme zu machen, seinem 1967 entstandenen | |
schwarz-weißen Langfilmdebüt „48 Stunden bis Acapulco“ hört man die | |
Genre-Action bereits im Titel an: Um reich zu werden, versucht ein junger | |
Mann, in Mexiko einen Coup durchzuziehen. Er gerät dabei an die falschen | |
Leute, die seine Lebenszeit verkürzen wollen. | |
Der stark stilisierte Film wurde mit geschulten Schauspieler:innen | |
produziert – was Lemke anscheinend im Ergebnis nicht überzeugte: Er habe | |
nie Skrupel gehabt, Leute aus seiner direkten Umgebung zu nutzen, erzählte | |
er 2015 dem Fernsehreporter. „Damals war ich mit so ner kleinen Schlampe | |
aus Hamburg zusammen, die hieß Iris Berben“, sagt er, während der | |
Journalist sein seriöses Interview endgültig in weite Ferne rücken sieht. | |
Über den mit starkem Akzent sprechenden Schauspieler Wolfgang Fierek, den | |
Lemke in den rührenden Tragikomödien „Idole“, „Arabische Nächte“ und | |
„Amore“ besetzte (Letzterer 1979 mit einem Grimme-Preis ausgezeichnet) sagt | |
er: „Das ist fabelhaft, dass den niemand versteht, denn dann weiß auch | |
niemand, was für einen Unsinn er redet“. | |
## Liebeskomödien mit Ex-Freundinnen | |
Und doch steckte hinter der ausgestellt-coolen Bad-Boy-Attitüde eine | |
riesengroße und dringliche Filmliebe und eine starke Haltung: Lemke teilte | |
vor allem in Richtung Filmförderung und Mainstream aus, und war – mit | |
zunehmendem Alter wuchs auch seine Ignoranz – sicher, dass Filme durch ein | |
höheres Budget nur schlechter werden können. Darum blieb er bei | |
Liebeskomödien mit Ex-Freund:innen und nannte seine Werke | |
bedeutungsschwanger „Undercover Ibiza“ oder „Das Flittchen und der | |
Totengräber“. | |
Berlin fand der Wahl-Schwabinger, der fast ausschließlich Fernsehfilme | |
inszenierte (und diese aufgrund der speziellen Urheberrechtssituation somit | |
durch Songs der Rolling Stones oder Elvis Presley verschönern konnte) erst | |
nach dem Jahr 2000 frei, wild und jung genug für ein paar Berlinfilme mit | |
neuen, authentischen (beziehungsweise Laien-) Darsteller:innen wie | |
Saralisa Volm und [6][Henning Gronkowski]. Beide sind übrigens inzwischen | |
Regisseur:innen geworden – Lemke nutzte Talente „aus der Umgebung“ also | |
nicht nur, sondern weckte nachhaltig etwas in ihnen. | |
Dass Lemkes Ideen, seine Rollenzuschreibungen und auch seine Filmsprache | |
nicht ohne Genderklischees blieben – normschöne, junge Frauen tanzen in | |
seinen Filmen gern mit geschlossenen Augen in Bikinis herum und sind | |
ohnehin stets Sklavinnen ihrer Sentimente –, verwurzelte sein Schaffen, das | |
in diesem Jahr nochmal ausgiebig beim Münchner Filmfest gewürdigt wurde, in | |
einer bestimmten Zeit. Doch zur Provokation der Angepassten gehörte für den | |
von allen Normen und Konformismen emanzipierten Lemke auch, die „politisch | |
Korrekten“ zu provozieren. Seine Filme verbanden Punkenergie mit Passion. | |
Und machten ihn so zu einem echten Freigeist. | |
10 Jul 2022 | |
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## AUTOREN | |
Jenni Zylka | |
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