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# taz.de -- Spielfilm von Alexandre Koberidze: Irritierender Flügelhauch
> Der georgische Regisseur Alexandre Koberidze sucht in seinem Film nach
> Liebe und Kunst in Zeiten des Krieges – zwischen Fußball und
> Chatschapuri.
Bild: Eine der Lisas (Oliko Barbakadze) in „Was sehen wir, wenn wir zum Himme…
Jetzt ist eine Zeit der Extreme, in der es immer gleich um alles geht. Ein
Kinobesuch ist nicht nur bloßes Filmeschauen, sondern ein Protest gegen das
passive Streamen. Oder zumindest ein Beitrag zur Rettung der Kinokultur.
Wie anders will man rechtfertigen, dass man, statt angespannt der
Nachrichtenlage zu folgen, auf eine Leinwand guckt, auf der minutenlang zu
sehen ist, wie erwartungshungrige, frohe Kinder aus einem Schulhof
herausstürmen?
Frei nach dem abgenutzten Brecht-Zitat von dem Gespräch über Bäume, das zu
bestimmten Zeiten fast ein Verbrechen ist, weil es „ein Schweigen über so
viele Untaten einschließt“: Welche Relevanz hat jetzt gerade eine Kunst,
die nicht unmittelbar politisch ist, sich nicht direkt mit dem Krieg
befasst?
Aleksandre Koberidzes „Was sehen wir, wenn wir zum Himmel schauen?“, der
mit der beschriebenen langen Szene beginnt, liefert auf diese Frage eine
zunächst irritierende, weil mäandernde, zögerliche, verschlüsselte Antwort.
Aber es ist doch eine Antwort. Eine, die darum bemüht ist, in ihrer
Formulierung eine Reflexion darüber mit einzuschließen, was Geschichten,
was Filme mit ihren Zuhörer:innen und Zuschauer:innen eigentlich so
machen.
Zunächst einmal wäre da jener Akt, den man mit etwas Überhöhung
Verzauberung nennt. Der empfängliche Zuschauer verspürt deren Flügelhauch
vielleicht schon bei den erwähnten ersten dokumentarischen Bildern von den
Kindern vor der Schule: Da gibt es eine Ruhe und Geduld im Blick der Kamera
(Faraz Fesharaki), die der Betrachtung das Voyeuristische nimmt und zur
Meditation auffordert. Man nimmt statt der einzelnen Gesichter vor allem
die Stimmung wahr: die Unruhe, die Ungeduld, das Nichtstillstehenkönnen –
und der Erfahrungshunger, der sich in all diesem Bewegungsdrang ausdrückt.
Dann wird der Blick kleinteiliger, ausschnitthafter und senkt sich zu
Boden. Der Hof ist plötzlich leer. Zwei Paar Beine, das eine in einer roten
Cordjeans, das andere in brauner Stoffhose, kreuzen sich. Ein Buch fällt zu
Boden, wird aufgehoben, die Beine gehen weiter, kehren um, weil sie die
falsche Richtung eingeschlagen haben, begegnen sich noch mal. Ein
unbeholfener Dialog aus dem Off begleitet dieses „Meet-Cute“ zweier junger
Menschen, die später als Lisa und Giorgi vorgestellt werden.
Lisa arbeitet in einer Apotheke; Giorgi spielt Fußball, zeigt der Film in
tableauhaften Szenen. Lisa zieht sich den weißen Kittel über und stellt
sich hinter die Theke. Giorgi sitzt mit seinen Fußballkollegen auf dem
Rasen und lauscht den Ausführungen des Trainers. Wie zerstreut fängt die
Kamera noch andere Szenen aus der Stadt ein, in der beide leben. Wir sind
im georgischen Kutaissi, wenn man dem Blick der Kamera vertraut, einem
beschaulichen Gebirgsstädtchen mit viel altem Gemäuer, aber auch modernem
Verkehr, mit den üblichen Plastikstuhl-Cafés, Palmen-bestandenen Plätzen
und einem reißenden Fluss, dem Rioni, in seiner Mitte.
## Kein Wunder, sondern das Offensichtliche
Dann wird es Nacht, und die Kamera bezieht eine Position mit erhabenem
Blick über eine Kreuzung. Oben links im Bild, kaum zu erkennen, begegnen
sich erneut Lisa und Giorgi. Wieder hört man ihren etwas unbeholfenen
Dialog. Sie verabreden sich, morgen Abend in einem bestimmten Café, und
laufen auseinander, während die Stimme aus dem Off von „vier Freunden“
erzählt, die Lisa etwas sagen wollen.
Gemeint sind eine Regenrinne, ein Setzling, eine Ampel und der Wind. Sie
alarmieren Lisa, dass sie in der Nacht ein Fluch ereilen würde. Dann bittet
der Film seine Zuschauer:innen darum, die Augen zu schließen. Am
nächsten Morgen erwacht Lisa und erkennt sich nicht wieder. Was sie nicht
weiß, weil, so die Stimme aus dem Off, der Wind es verpasst hat, ihr zu
sagen: Auch Giorgi geht es so.
Für den skeptischen Zuschauer passiert hier kein Wunder, sondern das
Offensichtliche: Lisa und Giorgi werden nun von anderen
Schauspieler:innen gespielt. Wer sich dagegen willig verzaubern lässt,
für den vollzieht sich mit diesem Kunstgriff ein kleines Mirakel. Der Blick
auf die Welt verändert sich, Dinge kommen von ihrem scheinbar
vorgeschriebenen Weg ab.
Nicht nur, dass Lisa und Giorgi sich nicht mehr als diejenigen erkennen
können, die sich bei ihren zwei Zufallsbegegnungen ineinander verliebt
haben, sie müssen auch ihre Leben den neuen Gegebenheiten anpassen: Lisa
weiß nichts mehr über Medizin und verlässt ihren Apothekenjob, Giorgi
kriegt als Fußballer nichts mehr hin und heuert bald als Straßenverkäufer
an. Wie es der Zufall will, ganz in der Nähe eines Cafés, in dem Lisa einen
Job als Bedienung findet.
Gleichzeitig bricht das Fußballweltmeisterschaftsfieber über der Stadt aus
– die Bezüge zu Messi und der argentinischen Mannschaft sind real, die zu
ihren Spielergebnissen nicht – und Kamera und Erzählung schweifen immer
weiter ab. Es kommen Hunde, die Vardy heißen, ins Bild und erzählt wird
davon, wo sie sich abends zum Fußballgucken verabreden. Chatschapuri, das
traditionelle georgische Käsebrot wird gebacken. Und ja, natürlich wird
irgendwo auch ein Film gedreht, beziehungsweise es wird für ihn gecastet.
Womit sich schließlich eine Möglichkeit abzeichnet, dass Lisa und Giorgi
doch noch zusammenfinden.
Für so manchen politisch Interessierten und von den aktuellen Ereignissen
Geplagten mag das alles viel zu putzig klingen. Von wegen Liebespaar,
Fluch, Beschaulichkeit. Und dann noch Fußballfieber! Es ist auch keine
Übertreibung, wenn man feststellt, dass Koberidze die Geduld seines
Publikums strapaziert.
Aber gerade in dieser gewollten Zerstreuung liegt etwas, in der
Bereitschaft, sich treiben zu lassen in einem Fluss der Bilder, über deren
Zielrichtung man sich in ständiger Ungewissheit bewegt, weshalb sie aber
auch immer wieder Überraschungen bereithalten.Auf der einen Seite könnte
man Koberidzes Film abtun als kokette Verschränkung von launiger
Märchenerzählung und raffinierter Bildmontage, als weltfremdes Getue und
L’art pour l’art.
Auf der anderen Seite hat eben dieses konsequente Ablenken Methode. „Es
wäre nicht schlecht zu erläutern, in was für einer Zeit sich die
Ereignisse, die wir hier gemeinsam betrachten, abgespielt haben: Die Zeit
war gewaltsam, gnadenlos.“, räsoniert die Stimme aus dem Off nach einer
Stunde, während die Kamera einem Fußball zusieht, den der Rioni-Fluss
davonträgt. „Wie können Menschen ein alltägliches Leben führen, während …
sie herum schwerste Verbrechen begangen werden?“, fragt sie weiter.
Koberidzes Antwort ist verschlüsselt. Sie liegt unter anderem im Umgang mit
den Bildern, die Kameramann Faraz Fesharaki hier mit genialem Gespür für
Taktilität und Atmosphäre einfängt. An den Details der Gemäuer, Straßen,
Häuser und Menschen kann man sich schon kaum sattsehen. Und hinzu kommt die
Suggestion des Erzählers, der aus jedem willkürlich eingefangen Passanten
oder Kioskbesitzer einen Mitwirkenden in der Intrige um Lisa und Giorgi
macht. Ja man sieht gleichsam dem Narrativ „in the making“ zu. Und dem,
wonach wir uns alle innig sehnen: dem Frieden über der Stadt.
8 Apr 2022
## AUTOREN
Barbara Schweizerhof
## TAGS
Film
Georgien
Liebe
Krieg
Spielfilm
Musik
Film
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