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# taz.de -- Neue Musik aus Georgien: Wie das Meer und wie die Berge
> Sie sind experimentierfreudig und jung: Musikerinnen aus der georgischen
> Elektronikszene sind neu zu entdecken auf einer Compilationsreihe.
Bild: Die Meisterschülerinnen präsentieren sich zwischen alten Vitrinen: hier…
Der Name „Margarete“ ist vier Minuten lang zu hören. Es ist die Stimme von
Paul Celan, die in einer fast unendlich wirkenden Wiederholungsschleife
diesen Frauennamen intoniert. Der deutsch-jüdische Dichter spricht den
Namen bewusst hart aus. In der Komposition von Ani Zakareishvili wird
Celans [1][„Margarete“] zu einer mit subsonischem Bass unterlegten
Beschwörungsformel, franst dann langsam aus, um sich am Ende in eine Frage
zu verwandeln. „Margarete“ ist ein Zitat aus Celans „Todesfuge“.
Celan, 1920 im damals rumänischen (heute ukrainischen) Czernowitz geboren,
bezieht sich in seinem berühmtesten Gedicht auf den Holocaust: „wenn es
dunkelt nach Deutschland, dein goldenes Haar Margarete, dein aschenes Haar
Sulamith“.
Ani Zakareishvili, die junge georgische Komponistin, setzt daneben auch
ästhetische Bezugspunkte, die in Richtung Deutschland weisen. So ist das
Musikvideo von „Five Margaretas“ ästhetisch eine Referenz an die deutschen
Elektronikpioniere Kraftwerk. Denn es ist ein Mensch-Maschinen-Kopf, mit
dünnem exakten Strich gezeichnet und von vielen Linien durchzogen, der
mechanisch seinen Mund öffnet und „Margarete“ anruft (Visuals: Nika
Machaidze).
## Meisterschülerinnen aus Tiflis
Ani Zakareishvili hat ihr Handwerk bei [2][Natalie Beridze] gelernt. Mit
ihr haben acht weitere junge Klangkünstlerinnen von der Erfahrung der
international anerkannten Elektronik-Produzentin profitiert. Beridze, die
zeitweilig in Berlin lebte, hat diesen Kurs in den Räumen des kleinen
Labels CES in Tiflis eingerichtet.
Zu dem ersten Sampler, der Kompositionen aller Meisterschülerinnen umfasst,
erklärt Natalie Beridze: „Dieser Sampler ist das Ergebnis meiner
Lehrtätigkeit. Ich bin überzeugt, dass diese jungen Musikerinnen eine große
Zukunft in Georgien und darüber hinaus haben werden. Dieses Album ist der
erste Schritt dahin.“
Zakareishvilis „Five Margaretes“ sticht heraus, weil die Musik fast nur auf
die Stimme baut und so a cappella einen bestechenden Rhythmus generiert.
Tamta Gwarliani, sTia, Eto Gelashvili, Dea Bezhuashvili, N. Chavchavadze,
Katie Eristavi und Anushka Chkheidze hingegen legen den Schwerpunkt auf die
Instrumentalmusik. Stimme ist, falls vorhanden, nur Begleitung. Wie auch
bei Natalie Beridze, ihrer Dozentin.
Das Cover von „Sleepers. Poets. Scientists“ zeigt die neun Musikerinnen in
weißen Kitteln in einem altmodischen, sowjetisch angehauchten Laborraum,
umgeben von einem Kabelsalat. Anushka Chkheidze hat mit ihrem Musikstück
„Sleepers. Poets. Scientists“ den Titel des Albums vorgegeben. Chkheidze,
erst 24 Jahre alt, ist momentan die international bekannteste der neun
Musikerinnen. Sie hat während der Pandemie zwei Soloalben veröffentlicht.
„Halfie“ war für den IMPALA European Independent Album of the Year Award
nominiert.
In „The Old Man and the Sea“, einem von drei Kompositionen Chkheidzes auf
dem Sampler, dominiert der monotone sich wiederholende langgezogene
Moll-Ton auf dem Keyboard. Diesen unterlegt sie mit Hi-Hats, die sich aus
der Entfernung annähern und Schritt für Schritt akustisch mit dem
Tasten-Moll-Ton gleichsetzen. So schafft die Künstlerin eine imaginäre
Weite und ein fiktives Meer. Geräusche, die an Wellen erinnern, werden wie
von Zauberhand eingestreut. Sie allein sind am Schluss des Tracks zu hören
und bringen einen wieder ans Ufer zurück.
## Eine Liebeserklärung mit Vorwahl
Neue Klangräume mithilfe von Musik zu generieren, das hat die Musikerin von
ihrer Dozentin Natalie Beridze gelernt. „+995“, der Track, dessen Titel
sich auf die telefonische Landesvorwahl von Georgien bezieht, entführt mit
Hi-Hats und langgezogenen Dur-Tönen in eine Klanglandschaft, die Höhe –
Gebirge – evoziert. Dazu kommt eine Keyboard-Melodie, zu der man tanzen
könnte. Im Großen und Ganzen malt der dreieinhalbminütige Track ein
sphärisches, harmonisches und auch beschwingtes musikalisches Bild von
Georgien. Eine Liebeserklärung Chkheidzes an ihre Heimat, die den Sampler
programmatisch eröffnet.
N. Chavchavadzes Komposition „Queen Size“ beschließt das Album. Es ist ein
langer Schlussakkord mit einer unwiderstehlichen Nuance: Steht bei den
meisten der elf Tracks der Klang eines Tasteninstruments im Vordergrund,
sind es bei „Queen Size“ Streichinstrumente, die dominieren. Zuerst klingt
es, als würde eine Gitarre sich selbst spielen, an sich zupfen und verrückt
werden. Später sind es Geigen und Bratschen, die sich selbst zu rupfen
scheinen, begleitet von einem Bogen, der über die Saiten quietscht.
Sieht man sich das Musikvideo dazu an, ist das Auge einer ständigen
Überforderung ausgesetzt. Denn der Bildschirm ist aufgeteilt in mehrere
unterschiedlich große Rechtecke, in diesem Splitscreen befinden sich
grafische Formen, die ein Eigenleben führen. Rhythmisch vibrierende
Vierecke verdoppeln beziehungsweise verstärken das ekstatische
Gitarrenzupfen. Daneben ist eine Form, die an einen Ikea-Papierlampenschirm
erinnert, im Nachbarviereck eingesperrt, verrenkt und streckt sich – und
kommt doch nicht raus. Es ist ein acht-minütiges, beunruhigendes Szenario
von außer Rand und Band geratenen Formen und Musik, die nicht gebändigt
werden will.
In „MarTobdaSaati“ vertraut Chavchavadze auf den einsamen Schlag. Penetrant
– in immer gleichem Rhythmus – schlägt Holz auf Holz, von Weitem kommt ein
gegenläufiger Schlag dazu, der Schall erzeugt. Durch die schrittweise
Dazunahme eines Geräusches, das klingt, als wurde ein Holzschlegel mit
Gewalt immer schneller über andere Holzstäbe schaben, entwickelt sich die
Komposition zu einem elementar verstörenden Klangraum. „MarTobdaSaati“ ist
auf dem Nachfolge-Sampler zu hören, der vor Kurzem erschienen ist.
Tamo Nasidze ist zum ersten Mal dabei und gleich mit vier Kompositionen
vertreten. Zwei haben deutsche Titel: „Gute Nacht“ und „Emil aus Berlin�…
Während in „Gute Nacht“ das Fortepiano melancholisch Töne in den Raum
tröpfeln lässt, versucht sich „Emil aus Berlin“ an einer Symbiose aus
sphärischem Musikstück und Lesung.
Natalie Beridze betont: „Ich möchte als Dozentin und auch als Mensch meine
unendliche Liebe zum Prozess des Musikmachens an die nächste Generation
weitergeben.“ Davon erzählt die Compilationreihe „Sleepers. Poets.
Scientists.“ sehr überzeugend.
2 Sep 2022
## LINKS
[1] https://www.youtube.com/watch?v=k7YUrhKT1nw
[2] /Elektronik-Produzentin-Natalie-Beridze/!5873908
## AUTOREN
Katja Kollmann
## TAGS
Musik
elektronische Musik
Ausbildung
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Schwerpunkt Krieg in der Ukraine
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