| # taz.de -- Russische Putin-Gegner in Georgien: Begegnungen im Exil | |
| > Viele russische Regimegegner fliehen nach Georgien. In Tiflis gibt es | |
| > Selbsthilfegruppen und kulturelle Aktivitäten. Aber auch Konflikte. | |
| Bild: Mit Russland haben Georgier wenig am Hut. „Putin ist ein Dummkopf“ st… | |
| Vor dem Parlamentsgebäude in Tiflis liegt ein ziemlich großer Findling. | |
| Damit er zwischen dem stark befahrenen Rustaweli-Boulevard und dem 16 | |
| Säulen starken sowjetischen Architekturriesen nicht verloren geht, hat man | |
| ihn mit einem Betonrahmen umgeben. Eine Gedenkplakette erinnert an den 9. | |
| April 1989, den Tag, an dem sich vor dem Parlamentsgebäude über 100.000 | |
| Georgier öffentlich gegen die Sowjetmacht aussprachen. Sowjetische Truppen | |
| griffen ein. 21 Menschen überlebten das nicht, unter den Opfern war eine | |
| schwangere Frau. | |
| Im Sommer 2022 ist der Stein umgeben von Fotos, die junge Georgier und | |
| junge Belarussen zeigen, die für die Ukraine gekämpft haben und gefallen | |
| sind. Und was außerdem auffällt: Vor dem Parlament sind zwei Flaggen | |
| aufgezogen, die georgische Flagge – ein großes rotes Kreuz und vier kleine | |
| rote Kreuze auf weißen Grund – und die Flagge der Europäischen Union. | |
| 80 Prozent der georgischen Bevölkerung wünscht sich laut einer Umfrage den | |
| Beitritt des Landes zur EU. [1][Vor Kurzem haben Demonstrierende] die | |
| Absetzung der gegenwärtigen Regierung gefordert, denn die, so erläutern mir | |
| vier georgische Journalistinnen, tue nichts, um die geforderten Standards | |
| zu erreichen, etwa beim Abbau von Korruption. | |
| ## Besetzung durch russische Truppen in 2008 | |
| Die EU hat dem [2][Anwärterstaat Georgien] eine Frist bis Ende des Jahres | |
| zur Erfüllung der Aufnahmebedingungen gesetzt. Die Demonstranten vor dem | |
| Parlamentsgebäude wollen eine Übergangsregierung, die aus NGOs und | |
| Technokraten besteht, denn nur so könne effektiv an den „Hausaufgaben der | |
| EU“ gearbeitet werden. Davon sind auch die Journalistinnen überzeugt. | |
| Im Jahr 2008 marschierten russische Truppen in Georgien ein und besetzten | |
| Abchasien und Nordossetien – ein Fünftel des georgischen Territoriums. | |
| Seitdem gibt es keine bilateralen Beziehungen mehr zwischen beiden Ländern. | |
| Das macht Georgien zu einem sicheren Land für russische RegimegegnerInnen, | |
| denen in Russland eine Strafverfolgung droht. | |
| So sind lange schon vor dem 24. Februar 2022 russische | |
| MenschenrechtsaktivistInnen und MitarbeiterInnen von [3][Alexei Nawalnys] | |
| Antikorruptionsstiftung ins georgische Exil gegangen. Die Einreise ist | |
| unkompliziert. RussInnen brauchen nur einen gültigen Pass, die | |
| Sputnik-Impfung gegen Corona wird akzeptiert. Und es gibt eine lokale | |
| Organisation, die sich um die EmigrantInnen kümmert und die auch einen | |
| guten Draht zu Behörden hat: „Free Russia“ heißt sie. | |
| Der Kontakt zu „Free Russia“ kann für russische ExilantInnen nützlich sei… | |
| aber auch dazu führen, dass VertreterInnen dieser alteingesessenen | |
| Organisation den ExilantInnen eine Teilnahme an den Antiregierungsprotesten | |
| verbieten wollen. Begründung: Sonst würde die Organisation ihre guten | |
| Beziehungen zu den Behörden aufs Spiel setzen. Direkte Drohung: Wer | |
| mitdemonstriert, dem wird nicht mehr geholfen. | |
| ## Solidaritätsfest für die Ukraine | |
| Seit dem Kriegsanfang sind über 35.000 [4][russische StaatsbürgerInnen nach | |
| Georgien] geflohen. Inzwischen haben sich vor Ort aus der | |
| russischsprachigen Community heraus zwei neue NGOs gegründet: „Frame“ und | |
| „Emigration for action“. Durch Spenden finanziert „Emigration for action�… | |
| die Miete für ein einstöckiges Häuschen unweit der Tifliser Altstadt. Der | |
| Keller ist vollgestellt mit Regalen voller Medikamente. Die werden in die | |
| Ukraine, zum Beispiel nach Mariupol geschickt und an ukrainische | |
| EmigrantInnen in Georgien abgegeben. | |
| Im Erdgeschoss befindet sich eine Bar, in der neben Getränken einfache | |
| Stofftaschen mit der russischen Aufschrift „Meinungsfreiheit“ zum | |
| Projekt-Unterstützerpreis von 70 Lari (circa 23 Euro) verkauft werden. | |
| Evgenij, einer der Organisatoren, zeigt mir das große Zimmer neben der Bar, | |
| in dem einmal im Monat ein Solidaritätsfest für die Ukraine gegeben wird, | |
| und er erzählt von den verschiedenen Gesprächsformaten, die dort | |
| wöchentlich stattfinden, um für RussInnen im Exil einen Raum der Begegnung | |
| zu schaffen. | |
| An diesem Abend haben sich knapp zwanzig EmigrantInnen eingefunden. Alle | |
| sind zwischen dreißig und vierzig Jahre alt, bis auf Natascha, sie ist über | |
| sechzig. Alle sitzen sie im Kreis. Es ist die Auftaktveranstaltung für eine | |
| Selbsthilfegruppe, die sich über erlittene Gewalt, existierende Traumata, | |
| die jetzige Situation und Zukunftsperspektiven austauscht. | |
| Alle TeilnehmerInnen (bis auf einen) waren bis zu ihrer erzwungenen | |
| Emigration politische AktivistInnen in Russland. Alle (bis auf Natascha) | |
| sind kinderlos. Die meisten haben keinen Partner. Da ist man flexibler und | |
| weniger erpressbar. | |
| ## Als ausländischer Agent geführt | |
| Mascha hat am 16. Januar Russland verlassen, weil ihr aufgrund eines Posts | |
| zwölf Jahre Haft drohten. Sie erinnert sich: „Irgendwann füllte | |
| Geldverdienen mein Leben nicht mehr aus, ich wollte etwas wirklich | |
| Sinnvolles tun. Da wurde ich [5][Mitarbeiterin beim Nawalny-Stab] in meiner | |
| Heimatstadt Tscheljabinsk im Ural.“ | |
| Mascha wird wie fast alle anderen in diesem Raum in Russland inzwischen als | |
| ausländischer Agent geführt (im Russischen wird diese Bezeichnung nur in | |
| der männlichen Form verwendet). Wenn sich abzeichnet, dass man in Kürze in | |
| diese Rubrik fällt, was in der Regel eine gelenkte Gerichtsverhandlung am | |
| selben Tag bedeutet – mit der Aussicht auf jahrelangen Freiheitsentzug –, | |
| sollte man so schnell wie möglich das Land verlassen. Das ist einer der | |
| Hauptgründe für die Emigration vor dem 24. Februar. | |
| Natascha und Mischa sind Menschenrechtsaktivisten aus Sankt Petersburg. | |
| Mischa erzählt, dass er sich um Obdachlose gekümmert hat. Er hat eine leise | |
| Stimme, doch als er aufzählt, in wie vielen Bereichen er als Freiwilliger | |
| aktiv war, und die Liste der lokalen, ganz unterschiedlich gelagerten | |
| Menschenrechtsinitiativen gar nicht mehr aufhört, ist klar: Hier sitzt | |
| jemand, der sich als Bürger eines repressiven Staats bewusst dafür | |
| entschieden hat, seine ganze Kraft in die Verwirklichung der Menschenrechte | |
| vor Ort zu stecken. | |
| ## Viele sind traumatisiert | |
| Für ihn wie für Mascha hat der Krieg in der Ukraine 2014 mit der | |
| [6][Annexion der Krim] begonnen. Natascha engagiert sich für die Rechte der | |
| Krimtataren und ist deshalb oft von der russischen Polizei verfolgt worden. | |
| Die Flagge der Krimtataren gilt in Russland als extremistisches Symbol. Sie | |
| resümiert: „In den letzten Jahren konnte ich nur ruhig schlafen, wenn ich | |
| nicht in Russland war.“ | |
| Viele der Anwesenden sind traumatisiert. Sie sprechen das nicht direkt aus. | |
| Aber sie erzählen zum Beispiel vom Hochschrecken um 5 Uhr morgens, wenn sie | |
| ein Geräusch hören. Der frühe Morgen ist die von der Polizei und Putins | |
| Nationalgarde bevorzugte Tageszeit, um Regimegegner zu Hause zu verhaften | |
| und gleich mitzunehmen. Die russischen Exilanten müssen in Georgien auch | |
| neu lernen, in der Polizei keine Gefahr zu sehen. Das konnten sie bei der | |
| Gay Pride am 2. Juli erleben, während der ein großes Polizeiaufgebot die | |
| TeilnehmerInnen effektiv und unterstützend von den Pride-Gegnern | |
| abschirmte, wie sich Mascha – immer noch ungläubig – erinnert. | |
| „Wie viel Energie ich durch die ständige Bedrohungssituation in Russland | |
| verbraucht habe, begreife ich erst hier. Denn hier lässt man mich in Ruhe. | |
| Und darum fühle ich mich in Georgien sicher“, denkt Mascha laut nach. | |
| Julia, Juristin mit Fokus auf die Durchsetzung von Menschenrechten in | |
| Russland, pflichtet ihr bei. | |
| ## Wo wart ihr 2008? | |
| Die meisten EmigrantInnen sind nach Tiflis gekommen, weil die Einreise | |
| einfach ist und sie hier jemanden kannten, bei dem sie erst einmal | |
| unterkommen konnten und der bei den ersten Formalitäten behilflich war, der | |
| Eröffnung eines Bankkontos bei einer georgischen Bank zum Beispiel. | |
| So eine Kontoeröffnung wird inzwischen schwieriger für Menschen mit | |
| russischem Pass. So verlangt eine private Bank mittlerweile, dass man sich | |
| vor der Eröffnung schriftlich gegen den russischen Angriffskrieg | |
| positioniert. Das ist für die Mehrzahl der ExilantInnen kein Problem, für | |
| einige aber doch. | |
| Es gibt auch nicht wenige, die nach dem ersten Schock, der sie zur Ausreise | |
| trieb, wieder nach Russland zurückgekehrt sind. Das sind diejenigen, die | |
| sich vor dem 24. Februar nicht wirklich politisch gegen das Regime | |
| positioniert hatten. Und so unterstellen die vier georgischen | |
| Journalistinnen nicht wenigen russischen EmigrantInnen, dass sie nur nach | |
| Tiflis geflohen sind, weil es in Russland endgültig keine Wohlfühlnischen | |
| mehr gibt. Und sie fragen: Wo wart ihr 2008, als Russland den Krieg gegen | |
| Georgien begann? | |
| ## Regimekritische Dramatik | |
| Nicht nur das Parlamentsgebäude liegt am Rustaveli-Boulevard, einer der | |
| Hauptachsen der Stadt, dort findet man auch das Nationale Kunstmuseum und | |
| das Gribojedow-Theater. Es ist bis heute ein russischsprachiges Theater, | |
| das seine Wurzeln im 19. Jahrhundert hat, als die Kaukasusrepublik Teil des | |
| russischen Zarenreichs war. | |
| Sergos Mutter ist in diesem Theater seit über vierzig Jahren als | |
| Schauspielerin angestellt. Durch sie, die Georgierin ist, aber Russisch wie | |
| eine zweite Muttersprache beherrscht, ist Sergo zweisprachig aufgewachsen. | |
| Er ist Gastregisseur am Theater und hat sich viel vorgenommen. Er will neue | |
| russische regimekritische Dramatik mit russischsprachigen | |
| ExilschauspielerInnen auf die Bühne bringen. | |
| Seinen Cast für die erste Inszenierung hat er über den russischen | |
| Messengerdienst Telegram gefunden. Anfang Oktober soll „Wie wir Josef | |
| Stalin beerdigten“ vom Exilautor Artur Solomonow Premiere haben. Thema: die | |
| Stalinisierung der Gesellschaft – ohne dass es die Peitsche von oben | |
| bräuchte, denn ein Wink genügt. | |
| Sergo ist von seinem Ensemble begeistert: „Jeder möchte unbedingt spielen. | |
| Und jeder möchte genau in diesem Stück auftreten und sich dadurch politisch | |
| positionieren.“ | |
| Jurek war bis zum 24. Februar ein russischer Film- und Seriendarsteller. Er | |
| spielt Waldemar, einen Regisseur, der Stalin verkörpert und allmählich | |
| selbst zum Despoten wird. Seit 2012 engagiert er sich politisch und ist den | |
| russischen Behörden als Aktivist bekannt. Am 24. Februar überwies er Geld | |
| in die Ukraine, einen Tag später galt das als Straftat. Seitdem ist er in | |
| Tiflis. Er möchte die russische Staatsbürgerschaft ablegen und hat nichts | |
| gegen die georgische einzuwenden. | |
| Und wer wird zur Premiere kommen? Mascha sagt: „Wer schon, die | |
| ExilrussInnen!“ Sergo hofft auf das georgische Publikum. Wenn beide Gruppen | |
| kämen, wäre das ein Moment der Begegnung – zwischen den ExilantInnen und | |
| den eingesessenen TifliserInnen –, den es so bislang nicht gegeben hat. | |
| Reise und Recherche zu diesem Text wurden von der taz Panter Stiftung | |
| unterstützt. | |
| 17 Jul 2022 | |
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| ## AUTOREN | |
| Katja Kollmann | |
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