| # taz.de -- NGO hilft Demonstrierenden in Russland: Wider die staatliche Überm… | |
| > Warwara Michailowa arbeitet für eine russische NGO, die gratis | |
| > Rechtshilfe leistet. Seit ihrer Flucht hilft sie aus der Ferne. | |
| Bild: Kurz nach Kriegsbeginn: Einsatzkräfte nehmen Mitte März in Sankt Peters… | |
| Am 24. Februar beginnt der russische Angriffskrieg auf die Ukraine und für | |
| die Menschenrechtlerin Warwara Michailowa damit der Ausnahmezustand. Die | |
| 30-Jährige arbeitet für die russische NGO „[1][Apologia protesta]“. Die | |
| Organisation besteht aus Juristen in ganz Russland, die in Fällen von | |
| Menschenrechtsverletzungen kostenlose Rechtshilfe leisten. Die NGO | |
| verteidigt in Straf- und Ordnungswidrigkeitsverfahren, unterstützt bei | |
| Festnahmen und geht wenn nötig auch bis vor den Europäischen Gerichtshof | |
| für Menschenrechte. | |
| Warwara Michailowa betreut unter anderem die Hotline der NGO. Hier können | |
| sich Demonstrierende melden, die Unterstützung brauchen. „Es ist das | |
| Einzige, was mich davor bewahrt, verrückt zu werden“, sagt sie über ihre | |
| Arbeit. Warwara Michailowa verteidigt Rechtsstaatlichkeit und | |
| Menschenrechte in einem Land, in dem bis zu 15 Jahre Haftstrafe darauf | |
| stehen, den Krieg gegen die Ukraine als solchen zu benennen. Es ist eine | |
| Arbeit, die sie selbst in Gefahr bringt. | |
| Kurz nach Kriegsbeginn finden [2][in vielen Städten Russlands | |
| Massenproteste] statt. Hunderte Menschen rufen „Nein zum Krieg“ in | |
| Jekaterinburg. Tausend Menschen kommen zu einer spontanen Antikriegsdemo in | |
| St. Petersburg zusammen. Bereits nach wenigen Tagen gibt es tausende | |
| Festnahmen. Viele Menschen werden direkt auf der Straße verhaftet und für | |
| eine Nacht festgenommen. Teilweise seien es Menschen gewesen, die noch | |
| keine Erfahrung mit der Polizei hatten, sagt Warwara Michailowa. Wenn sie | |
| von der Polizeiwache telefonieren können, rufen sie bei der Hotline an. Am | |
| anderen Ende sitzt Michailowa. | |
| ## Jurastudium aus politischen Gründen | |
| Sie versucht herauszufinden, wann die Personen am nächsten Morgen vor | |
| Gericht erscheinen müssen, damit ein Anwalt sie finden kann. Die Polizei | |
| will genau das Gegenteil erreichen: Die Menschen möglichst schnell ohne | |
| juristischen Beistand verurteilen. „Sie schneiden die Kommunikationskanäle | |
| so weit wie möglich ab, sodass die Person keine Zeit hat, sich über ihre | |
| Rechte zu informieren, und vor Gericht so desorientiert wie möglich ist“, | |
| sagt Mikchailowa. | |
| Die Polizei setze die Menschen außerdem extrem unter Druck, erzählt sie der | |
| taz. „Wenn es Eltern sind, drohen sie mit dem Jugendamt. Sie halten | |
| Minderjährige dort fest und drohen ihnen mit Problemen in der Schule. Wenn | |
| es sich um Angestellte von Unternehmen handelt, haben sie Probleme bei der | |
| Arbeit“, sagt sie. Es sei auch zu Gewalt gekommen, sowohl bei Kundgebungen | |
| als auch bei Festnahmen. In einem Fall sei ein Mädchen von der | |
| Brateevo-Polizei in Moskau gefoltert worden. „Es war schwer, irgendetwas zu | |
| fühlen“, sagt Michailowa über diese Zeit. | |
| Sie hat aus politischen Gründen Jura studiert. Vor ihrer Arbeit als | |
| Menschenrechtlerin war sie selbst Aktivistin und wurde mehrfach auf | |
| Kundgebungen verhaftet. Sie weiß, dass ihr deshalb möglicherweise eine | |
| Haftstrafe droht. Sie erklärt: „Wenn man das erste Mal bei einer Kundgebung | |
| verhaftet wird, bekommt man 15 Tage Gefängnis, beim zweiten Mal bekommt man | |
| 30 Tage Gefängnis oder eine Geldstrafe von 300.000 Rubel. Wenn du aber das | |
| vierte Mal bei einer Kundgebung festgenommen wirst, wirst du wegen einer | |
| Straftat angeklagt.“ | |
| ## 14 Stunden banges Warten an der Grenze | |
| Außerdem schreibt sie in sozialen Medien offen über den Krieg. „Ich bin | |
| eine öffentliche Anwältin“, sagt sie. Auch ihr Partner, der russische | |
| Fotojournalist David Frenkel, hat Angst, dass er verhaftet wird. Frenkel | |
| arbeitet unter anderem zu Polizeigewalt und ist in den letzten Jahren immer | |
| wieder von schweren Repressionen betroffen gewesen. In einem Wahllokal | |
| wurde ihm im Sommer 2020 durch einen Polizeibeamten der Arm gebrochen. | |
| Immer wieder taucht die Polizei an der Wohnung von Frenkel und Michailowa | |
| auf. „Danach wurde unser Auto auf dem Hof vor unserem Haus zerstört“, sagt | |
| Varvara. | |
| Fünf Tage nach Kriegsbeginn beschließen sie zu fliehen. Michailowa packt | |
| Dokumente und Akten ein, die sie in ihrer Wohnung aufbewahrt. Dann setzen | |
| ihr Partner und sie sich ins Auto und fahren los. Vierzig Stunden von St. | |
| Petersburg, das fast ganz im Nordwesten Russlands liegt, bis in den Süden | |
| zur georgischen Grenze, bei Wladikawkas. Sie wollen nach Tiflis, in die | |
| Hauptstadt von Georgien. | |
| „Das ist der Moment, in dem du fährst und einfach nicht mehr weiterarbeiten | |
| kannst“, sagt sie. „Du fährst einfach und weinst. Das war ein sehr harter | |
| Moment.“ Es sind vierzig Stunden, in denen nicht klar ist, ob sie es | |
| schaffen. Vor allem ihr Ehemann hat Sorgen, dass man ihn nicht ausreisen | |
| lässt. | |
| „In den ersten Tagen war überhaupt nicht klar, welche weiteren Maßnahmen | |
| Putin ankündigen würde“, sagt Warwara. „Und es gab einen sehr | |
| beängstigenden Moment, als wir dachten, dass wir den Punkt verpasst hätten, | |
| um zu gehen.“ An der Grenze müssen sie fast vierzehn Stunden warten. Am | |
| Ende wird ihnen mitgeteilt, dass David Frenkel nicht einreisen darf. Eine | |
| Begründung erhält er nicht. Mit ihm werden weitere russische Journalisten | |
| an der Grenze abgewiesen. Frenkel fliegt nach Israel. Warwara Michailowa | |
| reist allein nach Tiflis weiter. | |
| Es sind harte Wochen für sie. „Ich habe mein Land, mein Zuhause und meine | |
| Familie verloren und bin von meinem Mann auf unbestimmte Zeit getrennt“, | |
| sagt sie der taz. Ihre russische Bankkarte funktioniert in Georgien nicht | |
| mehr. Sie lebt vom Bargeld in ausländischer Währung, das sie aus Russland | |
| mitgebracht hat. | |
| ## Gewaltvolle Verhöre | |
| Ihr Arbeitstag besteht nicht nur darin, die Hotline zu betreuen, sondern | |
| auch, juristische Dokumente für verhaftete Personen vorzubereiten. Denn | |
| nicht in allen russischen Städten habe die NGO ausreichend Anwälte und | |
| Anwältinnen. „Deshalb können wir nicht jedem, der verhaftet wird, einen | |
| Anwalt schicken“, sagt sie. Und das ist ein Problem. Jede Verhaftung | |
| bedeute großen Stress, vor allem, wenn die Person noch keine Erfahrung mit | |
| der Polizei habe. Die Verhöre seien oft grob, gewaltvoll und würden gegen | |
| elementarste Rechte verstoßen, sagt Michailowa. „Wir helfen dabei, damit | |
| umzugehen.“ | |
| Doch wenige Wochen nach Kriegsbeginn verschlimmert sich die Lage für | |
| russische Demonstrierende noch einmal. [3][Anfang März werden vom Kreml | |
| zwei Gesetze erlassen], die unabhängige Kriegsberichterstattung und | |
| Proteste gegen den Krieg mit Strafen von bis zu 15 Jahren Gefängnis | |
| kriminalisieren. Laut diesen Gesetzen ist es illegal, angebliche „Fake | |
| News“ über die russische Armee zu verbreiten, ein Ende des Militäreinsatzes | |
| zu fordern oder Sanktionen gegen Russland zu unterstützen. | |
| Die Gesetze verändern die Proteste. Gibt es im ersten Kriegsmonat noch | |
| Massenproteste in vielen russischen Städten, sind diese durch repressive | |
| Gesetzgebung mittlerweile fast gänzlich unterbunden worden. Nur wenige | |
| trauen sich, sich dem zu widersetzen. Stattdessen gebe es immer mehr | |
| Solo-Proteste, sagt Warwara Michailowa. Ein prominentes Beispiel ist die | |
| St. Petersburger Künstlerin Sascha Skotschilenko, eine Freundin von | |
| Michailowa. Skotschilenko drohen bis zu zehn Jahre Gefängnis, weil sie Ende | |
| März Preisschilder an Supermarktregalen mit Nachrichtentexten über Angriffe | |
| auf die ukrainischen Hafenstadt Mariupol ersetzt hatte. | |
| ## „Apologia protesta“ gilt nun als „ausländischer Agent“ | |
| Ihr Fall zeige das große Missverhältnis zwischen Tat und staatlicher | |
| Reaktion darauf, sagt Warwara Michailowa. Doch er stehe auch für viele | |
| andere, denn: „Jeden Tag erhalten wir Meldungen von Menschen, die wegen | |
| Stickern verhaftet wurden“. Die russischen Behörden versuchten alles, um | |
| auch den geringsten Widerstand zu unterdrücken. Michailowa erzählt von | |
| einem Fall, in dem ein Mann in der russischen Stadt Smolensk als | |
| Solo-Demonstrant ein Schild hoch gehalten habe. Ein Mann im Rollstuhl habe | |
| sich neben ihn gestellt. „Diese beiden Menschen wurden von der Polizei dann | |
| als Massenprotest eingestuft. Es war der absurdeste Fall“, sagt die | |
| Menschenrechtlerin. | |
| Mittlerweile ist Warwara Michailowa nach Israel zu ihrem Freund gereist. | |
| Ihre Organisation wurde Mitte Mai als „ausländischer Agent“ eingestuft. | |
| Seitdem sind sie verpflichtet, dem Justizministerium gegenüber ihre Bücher | |
| offenzulegen und einen Disclaimer auf ihrer Webseite zu führen. Dort steht | |
| nun ganz oben: „Diese Inhalte werden von einem ausländischen Massenmedium, | |
| das die Funktion eines ausländischen Agenten ausübt und/oder einer | |
| russischen juristischen Person, die die Funktion eines ausländischen | |
| Agenten ausübt, erstellt und/oder verbreitet“. Verstößt die Organisation | |
| gegen einen Teil dieses Gesetzes, kann sie geschlossen werden. | |
| Auch wenn man in einem faschistischen Staat lebe, sagt Warwara Michailowa, | |
| verliere man nie das innere Gefühl davon, was richtig sei. Doch sei völlig | |
| unklar, was die Zukunft bringe. Auch wenn sie aus der Ferne weiter arbeite, | |
| habe sie Sorge, dass ihre Arbeit und die aller Menschenrechtler*innen | |
| in Russland „irgendwie plattgemacht“ wird. „Wir müssen uns darüber im | |
| Klaren sein, dass unsere Arbeit in naher Zukunft gänzlich verboten sein | |
| wird.“ | |
| 3 Jun 2022 | |
| ## LINKS | |
| [1] https://apologia.pro/ | |
| [2] /Antikriegsproteste-in-Russland/!5835629 | |
| [3] /Kommentar-Fake-News-Gesetz-in-Russland/!5573210 | |
| ## AUTOREN | |
| Pascale Müller | |
| Daria Sukharchuck | |
| ## TAGS | |
| Schwerpunkt Krieg in der Ukraine | |
| NGOs | |
| Menschenrechte | |
| Meinungsfreiheit | |
| Kreml | |
| Russland | |
| GNS | |
| Russland | |
| Schwerpunkt Krieg in der Ukraine | |
| Diplomatie | |
| Propaganda | |
| Schwerpunkt Krieg in der Ukraine | |
| ## ARTIKEL ZUM THEMA | |
| Menschenrechte in Russland: Die letzten Reste der Zivilisation | |
| Russlands älteste Menschenrechtsorganisation wird per richterlichem Urteil | |
| verboten. Die Vorwürfe sind an Absurdität nicht zu überbieten. | |
| Russische Putin-Gegner in Georgien: Begegnungen im Exil | |
| Viele russische Regimegegner fliehen nach Georgien. In Tiflis gibt es | |
| Selbsthilfegruppen und kulturelle Aktivitäten. Aber auch Konflikte. | |
| Kritik am Kreml: Russischer Diplomat schämt sich | |
| Aus Protest gegen den Angriffskrieg Russlands ist ein russischer Diplomat | |
| zurückgetreten. 20 Jahre war Boris Bondarew im Dienst für das Putin-Regime. | |
| Russlands Mediensystem: Die Lügen des Kreml | |
| Warum glauben so viele Russ*innen die Kriegspropaganda des Kreml? Wer das | |
| verstehen will, muss sich auch das dortige Mediensystem angucken. | |
| Unterdrückung in Russland: Protest zwischen den Nudelpackungen | |
| Auf das Hochhalten von Tolstois „Krieg und Frieden“ folgt Anzeige, bei | |
| offener Kritik am Krieg droht Haft. In Russland verschärft sich die | |
| Repression. |