# taz.de -- Schriftsteller Giwi Margwelaschwili: Ein Junge, der Spielkameraden … | |
> Giwi Margwelaschwili wird 90 – eine gute Gelegenheit, sich mit dem | |
> deutsch-georgischen Schriftsteller und Philosophen zu beschäftigen. | |
Bild: Die Sprache von Giwi Margwelaschwili erinnert unseren Autor an das Berlin… | |
In Giwi Margwelaschwilis Stimme kann man das Deutsch der zwanziger Jahre | |
hören. Sein Tonfall, sein Lachen, sein in die Konversation eingestreutes | |
„Sehen Sie, mein lieber Herr“ – all das kommt mit verblüffender | |
Zeitgenossenschaft aus einem weltläufigeren, eleganteren, eloquenteren | |
Jahrhundert und aus einem Berlin, in dem Walter Benjamin, Samuel Fischer | |
und Kurt Tucholsky noch leben. Seine Wohnung in Tbilissi liegt in einem mit | |
hohen Bäumen bestandenen Innenhof hinter einem der großen Boulevards der | |
georgischen Hauptstadt. | |
Meine Gespräche mit ihm in den beiden kleinen, dunklen Räumen voller | |
Bücher, Zeitschriften und Papierstapel, wo ich ihn während meiner | |
georgischen Jahre alle paar Monate besuchte, pflegten sich derart anregend | |
(und meistens sogar aufregend) zu gestalten, dass ich mir angewöhnt hatte, | |
nach der Bewirtung in seiner kleinen Küche (Rotwein, gegrilltes Huhn, | |
georgische Vorspeisen und Fladenbrot) mit meinem Tagebuch sofort ins Bistro | |
„Tartine“ im Vorderhaus einzukehren, um mir in aller Eile zu notieren, was | |
mir von seinen Monologen und meinen assistierenden Einwürfen noch in | |
Erinnerung war. | |
Ich habe noch nie jemanden getroffen, für den Ideen, Bücher und | |
philosophische Probleme so geradezu physisch gegenwärtig sind wie für Giwi | |
Margwelaschwili. | |
Er kann über den ontologischen Unterschied der Modalkategorien | |
Notwendigkeit und Möglichkeit mit derselben Beiläufigkeit und | |
Selbstverständlichkeit reden wie andere Leute über die Beziehungsprobleme | |
eines befreundeten Ehepaars. Aber auch seine sehr dezidierten Urteile über | |
die politischen Verhältnisse Georgiens und über die Zeitgeschichte | |
allgemein sind in einer Weise und einer Plausibilität aus philosophischen | |
Einsichten abgeleitet, wie ich es bis zu meinen Gesprächen mit ihm niemals | |
gehört habe. So zum Beispiel seine Unterscheidung des Kapitalismus als | |
einer ontologischen Sphäre vom Kommunismus/Sozialismus als einer logischen. | |
## Sein Vater wurde ermordet | |
So etwas äußert er in dem coolen Ton eines Manns, der über gewisse Dinge | |
ein Leben lang erfolgreich nachgedacht hat. Man kann die Schneisen, die er | |
im Plauderton solcherart in die Diskurse der Gegenwart legt, eigentlich nie | |
vergessen und seine Unterscheidungen gehen unbemerkt und wie | |
selbstverständlich in das eigene Denken ein. | |
Und unvergesslich ist mir auch das so gelassene wie atemberaubende | |
Selbstbewusstsein des gebrechlichen alten Herren, der mir an einem dieser | |
denkwürdigen Spätnachmittage in einem dunklen Hinterhof in einem fremden | |
Land kühl darlegte, welche von Heidegger in „Sein und Zeit“ nicht | |
bearbeiteten Probleme er, Giwi Margwelaschwili, inzwischen abschließend | |
geklärt habe. | |
Es ist deshalb nicht zum Erstaunen, dass Margwelaschwilis großes | |
literarisches Thema die Lebendigkeit und Wirklichkeit in Literatur | |
vorkommender Personen ist. Für ihn sind Ideen und literarische Figuren eben | |
tatsächlich lebendige Gegenwart. Die Theorie der „Buchpersonen“ ist seine | |
Form des Naturalismus. Ich glaube, das liegt daran, dass ihm lebenslang | |
Philosophie und Literatur auch menschlich näher waren als die konkreten | |
sozialen Milieus, in die es ihn im Verlauf des letzten Jahrhunderts | |
gewaltsam verschlagen hat. | |
Der noch nicht zwanzigjährige antinazistische Dandy wurde 1945 aus dem | |
zerstörten Berlin in das vom NKWD kommunistisch umgewidmete KZ | |
Sachsenhausen verschleppt und von Ostberlin aus dann in die Sowjetrepublik | |
Georgien, wo sein Vater, ein patriotischer georgischer | |
Exil-Intellektueller, gefoltert und schließlich ermordet worden ist. Als | |
wissenschaftlicher Mitarbeiter der dortigen Akademie der Wissenschaften | |
hatte er jahrzehntelang nicht viel mehr zu tun, als pro Jahr einen | |
philosophischen Aufsatz zu veröffentlichen. | |
## Im Kreis imaginärer Spielkameraden | |
Während er außerdem für die Schublade sein (editorisch noch bei Weitem | |
nicht vollständig erschlossenes) literarisches Riesenwerk verfasste, hat er | |
sich – so enge georgische Freunde und Freundinnen er trotzdem natürlich | |
immer hatte – insgeheim zugleich immer in einem Kreis imaginärer | |
Spielkameraden bewegt – im Zauberkreis sehr deutscher Ideen und | |
Buchpersonen. | |
Seine einmalige, originelle und hochseltsame Schreibart, die eine forcierte | |
Kindlichkeit mit philosophischer Hyperintellektualität gelungen kombiniert, | |
ist einerseits eine Schutzhaltung gegenüber der bis zuletzt sehr | |
gefährlichen Sowjetzensur gewesen. Sie hatte aber auch etwas von der | |
Lebens- und Denkweise eines sehr intelligenten und sehr einsamen kleinen | |
Jungen. | |
Der jetzt 90 Jahre alt wird. Während meiner georgischen Jahre bin ich mit | |
vielen Goethe-Besuchern in den baumbestandenen Hinterhof gepilgert: mit | |
Navid Kermani, mit Lothar Müller, mit Ulrich von Bülow vom Literaturarchiv | |
Marbach, mit meinem Freund Matthias Klingenberg vom DVV International (dem | |
Erfinder des „Giwi-Margwelaschwili-Kulturpreises“) mit seinen Verlegern | |
Jörg Sundermeier und Kristine Listau, mit Ekke Maass, mit Dirk Knipphals | |
und Viola Noll – und mit vielen anderen, die mir jetzt gerade nicht | |
einfallen. | |
Wir alle wurden bewirtet, wir alle wurden mit erstaunlichen Ideen und | |
Büchern konfrontiert und lauschten verblüfft und inspiriert jenem Sound der | |
schnellen, hedonistischen, kultivierten Berliner Zwanziger Jahre, der aus | |
den Tiefen des letzten Jahrhunderts in unsere Gegenwart drang. Ich denke, | |
dass ich im Sinn von uns allen spreche, wenn ich mein imaginäres | |
Gratulationsbukett hiermit überreiche mit den Worten: „Herzlichen | |
Glückwunsch, Vivat, Danke und ad multos annos, verehrter Meister Giwi | |
Margwelaschwili!“ | |
14 Dec 2017 | |
## AUTOREN | |
Stephan Wackwitz | |
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