# taz.de -- Grenzkonflikt in Georgien: Plötzlich ein Zaun | |
> Ob Südossetien ein Staat ist oder zu Georgien gehört, darüber herrscht | |
> Streit. Ein deutscher Ex-Soldat versucht vor Ort, neuen Krieg zu | |
> verhindern. | |
Bild: Da am Horizont, wo die Berge des Kaukasus beginnen, ist die Grenze, die k… | |
BONN/GORI/GUGUTIANTKARI taz | Was ist eine Grenze? Eine Grenze ist, wenn du | |
nicht mehr scheißen gehen kannst, weil auf den staubigen paar Metern Weg | |
von deinem Haus zum Plumpsklo plötzlich Stacheldraht liegt. Oder wenn du | |
auf dem Feld arbeitest, ja auf dem, neben dem auch deine Verwandten | |
begraben liegen, und dann kommen Männer und bauen einen Zaun um diese | |
Gräber. Wenn du im Winter in deinen Garten gehst, um Holz zu hacken und | |
erst fünf Tage später wieder auftauchst, das Gesicht zerschlagen, das ist | |
eine Grenze. | |
Dabei ist sie an manchen Stellen nicht mehr als eine Reihe grüner | |
Zaunpfähle, kein Maschendraht dazwischen, nur Luft, die in der Hitze | |
flimmert. „Wir gehen da schön außenrum, wir wollen die Russen nicht | |
provozieren“, sagt Hans-Heinrich Schneider zu den anderen Männern aus | |
seinem Team. Er ist 66 Jahre alt und wohnt eigentlich in Bonn. Er könnte | |
mit seiner Frau hinten auf der Terrasse ihres Hauses die Bratwürste aus | |
Mecklenburg-Vorpommern essen, die sie beide so mögen. Stattdessen steht er | |
mit seinen brauen Wanderschuhen im Schlamm eines aufgeweichten Feldwegs | |
zwischen den Dörfern Ditsi und Gugutiantkari in Georgien. Schneider | |
überwacht die Grenze. | |
Okay, gerade sucht er im Modder nach der Stelle, an der seine Patrouille | |
gestern Nacht stecken geblieben ist. Es ist halb eins und 34 Grad im | |
Schatten. Die Augustsonne hat alle Wege steinhart gebrannt, aber ein paar | |
Bauern haben die Felder bewässert, ohne Bescheid zu sagen. Schmatzend saugt | |
der Sand an den Reifen der beiden blauen Jeeps, mit denen Schneider und | |
seine Leute gekommen sind. An beiden Jeeps weht die Fahne der Europäischen | |
Union. | |
Hier in Georgien, einem Land mit vier Millionen Einwohnern zwischen | |
Russland, der Türkei und dem Iran, zwischen Europa und Asien soll die EU | |
mit einer Grenzkontrollmission den Frieden überwachen. Ihre Beobachter | |
haben keine Waffen, nur Ferngläser, Nachtsichtgeräte und Kameras mit | |
riesigen Teleobjektiven. Sie kamen nach einem acht Tage dauernden Krieg im | |
August 2008 ins Land. Damals kämpften georgische gegen südossetische und | |
russische Truppen um die Kontrolle über Südossetien, ein Gebiet mit 75.000 | |
Einwohnern im Norden Georgiens und an der Südgrenze von Russland. Die | |
georgische Armee verlor, und Russland erkannte Südossetien als Staat an. | |
Georgien betrachtet es als sein illegal besetztes Territorium. | |
## 30 Meter Knick im Zaun, sein größter Erfolg | |
Ist die Grenze also wirklich eine Grenze? Ja, sagt die Regierung von | |
Südossetien. Ohne diese Grenze wäre ihr Land nur das, als was es der größte | |
Teil der Welt sieht: ein Teil von Georgien. Ja, sagen die Regierungen von | |
Russland, Nicaragua und Venezuela; auch der pazifische Inselstaat Nauru hat | |
Südossetien anerkannt. Russland hat nach Schätzungen der EU-Beobachter | |
4.500 Soldaten stationiert, die klarmachen, wie ernst es ihm mit seinem Ja | |
ist. Nein, sagen die Politiker in der Hauptstadt Tiflis und die meisten | |
Georgier, das ist keine Grenze, sondern eine Okkupationslinie. Die | |
georgische Regierung vermeidet alles, was so aussieht, als würde sie | |
Südossetien als Ausland behandeln. | |
Deshalb hat Hans-Heinrich Schneider heute Morgen keinen georgischen | |
Grenzposten oder Soldaten gesehen, als sein Jeep in Richtung der Zaunpfähle | |
fuhr, die die Linie zwischen Georgien und Südossetien markieren, sondern | |
ausschließlich normale Polizisten. Er stoppte nicht an Checkpoints der | |
Armee, sondern an kleinen grauen Häusern mit Schrägdach, an denen in großen | |
schwarzen Buchstaben „Polizei“ steht. Auf Englisch, damit es die ganze Welt | |
versteht. Je näher man der Grenze kommt, desto mehr sehen die Polizisten | |
wie Soldaten aus. Aus Pistolen werden Maschinenpistolen und aus | |
Maschinenpistolen Sturmgewehre. Dort, wo man die grünen Schilder schon | |
sehen kann, auf die Russen und Südosseten groß und in weiß „Staatsgrenze“ | |
geschrieben haben – ebenfalls in Englisch –, tragen die georgischen Männer | |
in den blauen Uniformen Granaten am Gürtel. Spezialtruppen des | |
Innenministeriums. | |
Etwa fünfzig Meter von der Stelle entfernt, an der Hans-Heinrich Schneider | |
sich Schlamm angesehen hat, macht die schnurgerade Zaunreihe plötzlich | |
einen Knick, als hätte sie sich mal eben überlegt, links abzubiegen. | |
Ungefähr 30 Meter geht das so, dann macht sie wieder einen Knick und läuft | |
in die gleiche Richtung weiter wie zuvor. Dieser Knick ist Hans-Heinrich | |
Schneiders größter Erfolg. „Ja, die Sache mit den Gräbern“, sagt er. „… | |
gab richtig Ärger.“ | |
2013 war das, im Mai. Auch damals war Schneider Chef des Feldbüros der | |
Monitoring-Mission in Gori. Das ist die Geburtsstadt des sowjetischen | |
Diktators Josef Stalin und eine von drei Städten, aus denen die | |
EU-Beobachter auf Patrouille fahren, die südossetische Hauptstadt | |
Tschinwali liegt gut 30 Kilometer nördlich. Damals, im Mai 2013, riefen die | |
russischen Soldaten die Hotline an. | |
Offiziell reden die georgische Regierung auf der einen Seite und die | |
russische Armee und die südossetischen Politiker auf der anderen nicht | |
miteinander. Dafür gibt es die Hotline. Wer ein Problem hat, ruft bei den | |
Leuten von der EU an. Und die rufen dann die anderen an. Georgische Bauern | |
würden Südosseten bedrohen, sagten die Anrufer damals ins Telefon. Als | |
Hans-Heinrich Schneider ankommt, sieht er: georgische Bauern, georgische | |
Polizisten, russische Soldaten. Geschrei, Drohungen, Fäuste, | |
Maschinenpistolen. Alle telefonieren, die Russen mit Moskau und Tschinwali, | |
die Georgier mit Tiflis. | |
Die Bauern hatten sich mit ein paar Bauarbeitern angelegt, die weitere | |
Zaunpfähle einschlagen wollten. Weil der Zaun sie von fünf Gräbern ihrer | |
Verwandten abgeschnitten hätte, sagt Hans-Heinrich Schneider, „natürlich | |
regen die sich da auf.“ Aber auch die Gegenseite ist wütend. „Wehe, du | |
gehst noch einen Schritt weiter“, droht ihm der Vizechef der südossetischen | |
Grenztruppen. Wenn Schneider das erzählt, den Kopf leicht zur Seite gelegt, | |
lächelnd, dann klingt das wie ein Bauernschwank, ein Nachbarschaftsstreit | |
in einem brandenburgischen Dorf. Nur dass hier aus solchen Lokalpossen ein | |
Krieg werden kann. | |
„Ich habe versucht, das kleinzuhalten“, sagt Hans-Heinrich Schneider. Er | |
ruft einen Offizier bei den Russen an, ein Hardliner, sagt Schneider, aber | |
sie vertrauen einander, nennen sich beim Vornamen. Hans sagt Juri, Juri | |
sagt Hans. Um ein oder zwei Uhr ist Hans-Heinrich Schneider bei den Gräbern | |
angekommen, abends gegen sieben Uhr fährt er wieder. Der Zaun wird weiter | |
gebaut, aber um die Gräber herum. Hans-Heinrich Schneider hat den Georgiern | |
geholfen, ein paar Meter ihres Landes zurückzubekommen. Die Bauern können | |
zu den Gräbern. Alles gut. | |
Aber die Regierung in Tiflis ist nicht glücklich. | |
„Aus ihrer Sicht habe ich sie quasi dazu gezwungen, mit den Russen über den | |
Grenzverlauf zu verhandeln, und ihn damit legitimiert“, sagt Hans-Heinrich | |
Schneider. Je mehr man über die Grenze redet, desto mehr wird sie | |
tatsächlich zu einer. Hat er seine Kompetenzen überschritten? Die | |
EU-Beobachter sollen sich darum kümmern, dass beide Seiten mehr miteinander | |
reden, Vertrauen schaffen. Aber keine Partei ergreifen. „Dienst nach | |
Vorschrift war das sicher nicht“, sagt Hans-Heinrich Schneider. Aber Dienst | |
nach Vorschrift will er auch nicht machen. Er ist freier als andere, weil | |
er auch Pensionär sein könnte. Sich in Bonn um den Alfterer Sport-Club | |
kümmern – 700 Mitglieder, Leichtathletik, Radfahren, Volleyball. Er ist der | |
Geschäftsführer, läuft selbst zweimal die Woche, aber keine Marathons mehr | |
in seinem Alter. Er hat keine Karriere zu verlieren, er will auch keine | |
mehr machen. Es ist schwer, Schneider zu drohen. | |
Es sei denn, man wüsste: Er hat Angst, bald für immer nach Hause zu müssen. | |
Seine Frau hätte ihn schon längst gerne mehr in Bonn. Spätestens seit sie | |
vor einiger Zeit die Sache mit dem Herzen hatte und mit dem Fahrrad noch | |
selbst zum Arzt gefahren ist. Sie haben einen Deal. Nächstes Jahr, wenn sie | |
in Rente geht, hört er auch auf. Er schiebt die Unterlippe vor, beißt | |
leicht mit den Vorderzähnen darauf. Er sagt: „Das wird hart.“ | |
## Von der NVA zur Bundeswehr | |
Hier in Gori fährt er mit dem Jeep die Grenze für den Frieden ab, in Bonn | |
nur mit dem Smart zum Einkaufen, ließe sich jetzt sagen, aber das wäre | |
billig. Wie viele Menschen, die älter werden, hat Hans-Heinrich Schneider | |
Angst, zu verschwinden. Als die Kinder 2009 aus dem Haus sind, fragt er | |
sich, wie es weitergehen soll. Er war Fregattenkapitän in der DDR-Marine, | |
hat ein Minenräumschiff kommandiert. In den Endtagen der sozialistischen | |
Diktatur ist er Stabschef der Vierten Flottille der Volksmarine, sorgt | |
dafür, dass keine Munition verschwindet und die Männer von der | |
Staatssicherheit in der Flotte ihre Waffen abgeben. Auch die kleine | |
Pistole, die ein Stasi-Mann erst nicht herausrücken will. | |
Schneider hat im Militär Karriere gemacht, obwohl sich seine Schwester, | |
eine Siebenkämpferin, 1956 nach einem innerdeutschen Sportwettkampf im Bus | |
der Westdeutschen zwischen Sportgeräten versteckte und nach Unna floh. Nach | |
dem Mauerfall befragt ihn der Militärische Abschirmdienst, ob er für die | |
Stasi gearbeitet hat. Die Bundeswehr übernimmt ihn, er lernt, was Innere | |
Führung heißt und dass die Elektrik auf Nato-Schiffen mit 440 Volt läuft | |
statt wie in der DDR mit 380. 1993 zieht die Familie nach Bonn, Schneider | |
arbeitet für das Verteidigungsministerium. 1999 organisiert er im | |
Hauptquartier der internationalen Truppen in Sarajevo Treffen hochrangiger | |
Soldaten, später geht er als stellvertretender Militärattaché an die | |
deutsche Botschaft in Kiew. Wie soll so einer aufhören? „Ich hatte Schiss, | |
mit 58 irgendwo zu sitzen, und keiner fragt dich mehr“, sagt Hans-Heinrich | |
Schneider. Aber ihn fragt einer. | |
Im Frühjahr 2009 isst er in einem italienischen Restaurant in der Nähe des | |
Gendarmenmarkts in Berlin. Ein Mann aus dem Auswärtigen Amt hat ihn | |
eingeladen, sie kennen sich von früher. Er fragt Schneider, ob er nach | |
Georgien kommen will, die Europäische Union suche noch Leute. Drei Tage | |
nach seiner Pensionierung landet Hans-Heinrich Schneider in Tiflis. Seitdem | |
kommt er immer wieder, das hier ist sein dritter Job in Georgien. „Die | |
haben gesagt, wir brauchen dich“, sagt Schneider. „Was mag dir als alter | |
Sack Besseres passieren?“ | |
Wie sieht die Grenze aus? Stell dir vor, du stehst auf einer Wiese voll | |
gelber Blumen. Quer hindurch geht ein Zaun aus dünnen grünen Metallstreben, | |
Baumärkte verkaufen die in Deutschland als „Doppelstabmattenzaun“. Ein | |
Meter mal zwei Meter kosten bei Obi 35 Euro und 99 Cent. Dahinter Spuren | |
von schweren Fahrzeugen, auch die Russen fahren Patrouille. Oder du gehst | |
auf einem Feldweg, und da siehst du es silbern glitzern, Stacheldraht in | |
sanfter Windung schlängelt sich von rechts aus dem Gebüsch und verschwindet | |
links wieder zwischen Ästen, Zweigen, Blättern. Vielleicht hast du einen | |
Garten, und dann rupfen bewaffnete Kerle deinen Zaun aus der Erde und | |
setzen ihn vierzig Meter weiter nach vorne. Das ist jetzt die Staatsgrenze, | |
sagen sie. Vergiss deinen Garten. Und wenn du aber das Holz oder das Gemüse | |
aus deinem Garten brauchst, dann landest du im Gefängnis und kommst grün | |
und blau im Gesicht nach Hause. | |
Das ist Amiran Gugutischwili und Tina Bidzinaschwili passiert. Er, heute 70 | |
Jahre alt, war mal Direktor einer Fabrik, die Früchte verpackt hat, sie, 65 | |
Jahre alt, Lehrerin für Mathematik. Sie wohnen nicht weit von den | |
Grabstellen, einen oder zwei Kilometer. Seit ihr Haus 2008 in Brand | |
geschossen wurde, leben sie mit ihrem Sohn und ihrem Enkel in einem alten | |
Schulgebäude in Gugutiantkari, einstöckig und schmutzig weißer Anstrich | |
außen. Innen stapelt sich in einem Raum alles, was sie aus ihrem Haus | |
gerettet haben, und vieles, was sie so finden, man weiß nie, wofür es noch | |
gut ist. In dem anderen stehen Betten und ein alter Ofen. | |
Vor vier Jahren, im Frühling kamen Männer mit Kalaschnikows, die haben | |
ihren Zaun versetzt und zur Staatsgrenze erklärt. Damals hat das Ehepaar | |
Hans-Heinrich Schneider kennengelernt, eine EU-Patrouille rief bei ihm im | |
Büro an, er fuhr am nächsten Tag hin und versuchte zu helfen. Er konnte | |
nicht viel tun, aber einen Monat später gelang es ihm immerhin, ein paar | |
Männer zu verscheuchen, die den beiden das Metall der Weinspaliere aus dem | |
Garten klauen wollten. Im Februar dieses Jahres bekam Hans-Heinrich | |
Schneider dann wieder einen Anruf. Amiran Gugutischwili war verschwunden. | |
Holz holen wollte er, es war kalt in der alten Schule. Gugutischwili zeigt | |
noch mal, wie er das gemacht hat, damals in der ersten Februarwoche dieses | |
Jahres: Der Maschendrahtzaun, an dem Südossetien beginnt, geht direkt an | |
der Mauer des Hauses entlang, in dem sein Nachbar früher gewohnt hat. Dem | |
haben sie Stacheldraht über den Weg zum Plumpsklo gelegt, quer durch sein | |
Grundstück, er wohnt nicht mehr hier. Amiran Gugutischwili hat sich | |
zwischen Zaun und Mauer gequetscht und dann vorwärts, Stück für Stück. | |
Gugutischwili weiß: Er darf nicht hinüber nach Südossetien. Die dort an der | |
Macht sind, erlauben keine Einreise von Georgien aus. | |
Sie haben ihn erwischt, fünf Tage ist er weg, er kommt wieder, nachdem ein | |
Freund der Familie 2.000 Rubel an einem inoffiziellen Grenzübergang bezahlt | |
hat. 32 Euro sind das in etwa, die übliche Strafe für das unerlaubte | |
Betreten der anderen Seite. Durchschnittlich 134 Festnahmen pro Jahr seit | |
2011 hat die EU-Mission gezählt. Im vergangenen Jahr wurden neun Menschen | |
beim Feuerholzholen gefangen genommen, weitere neun bei Familienbesuchen. | |
Aber Amiran Gugutischwili ist keiner von den üblichen Fällen. | |
Fotos von damals zeigen ihn mit blauen Flecken unter den Augen, die bis | |
über die Wangen reichen, mit roten, blutigen Flecken auf der Stirn und dem | |
fast kahlen Kopf. Eine Nichtregierungsorganisation in Tiflis will damit in | |
Strasburg vor den Europäischen Menschenrechtsgerichtshof. Ihr Mann höre nun | |
noch schlechter als vorher, sagt Tina Bidzinaschwili. Ihm steht öfter der | |
Mund offen, manchmal merkt er nicht, wenn er angesprochen wird. | |
Was die Regierung Südossetiens über den Fall denkt, sagt sie nicht, | |
jedenfalls nicht auf Anfrage der taz. Der Grenzschützer, der Hans-Heinrich | |
Schneider bei den Gräbern gesagt hat, er solle keinen Schritt weiter gehen, | |
hat ihm auch gesagt, Amiran Gugutischwili könne natürlich seinen Garten | |
besuchen. Er solle einfach die 400 Kilometer außen herum bis nach Russland | |
fahren und dann von Norden über Südossetien einreisen. | |
„Absurditäten wie in der DDR“, sagt Schneider. Am 75. Geburtstag seiner | |
Mutter mussten er und seine Schwester entscheiden, wer von beiden hingeht. | |
Ein Offizier der Nationalen Volksarmee durfte nicht mit einer | |
Republikflüchtigen feiern. Getroffen hat er seine Schwester trotzdem | |
heimlich im Wald. | |
„Typen wie mich gibt es nicht mehr viele“, sagt Schneider. Typen, die im | |
sozialistischen System so gefangen waren wie er und sich doch darin zu | |
bewegen wussten. Typen, die deshalb Amiran Gugutischwilis Nöte verstehen, | |
aber auch das Verhalten älterer russischer Offiziere. „Russische | |
Landstreitkräfte“, sagt Schneider im Deutsch der NVA. Er spricht dieses | |
harte Russisch aus der DDR, das scheppert, als würde eine sehr große Ziege | |
in einen Blecheimer pinkeln. „Ich kann mit Russisch Smalltalk machen“, sagt | |
er und lacht über den Ziegenvergleich, „es geht doch um die | |
Aufrechterhaltung eines Gesprächsfadens.“ | |
Die Grenze, wird sie jemals verschwinden? Hans-Heinrich Schneider sitzt auf | |
der Terrasse seines Hauses in Bonn, hinter dem Garten sieht man die Häuser | |
des alten Innenministeriums. Es ist die letzte Augustwoche, er bleibt ein | |
paar Tage am Stück zu Hause, dann geht es wieder zurück nach Georgien, so | |
macht er das öfter. Er beißt in eine Rostocker Bratwurst ohne Darm und | |
sagt: „Wir werden das Problem mit der ABL wohl nicht mehr lösen.“ | |
Ach ja, die Europäische Union hat für die Grenze auch einen Namen: | |
administrative boundary line, kurz ABL. Ein Versuch, etwas neutral zu | |
benennen, was nicht neutral zu benennen ist. Die Russen haben entlang | |
dieser Linie viel Geld investiert, Basen aufgebaut, die nach Schätzungen | |
von EU-Beobachtern viel mehr Soldaten fassen könnten, als schon da sind. | |
Südossetien liegt strategisch günstig, bis zur türkischen Grenze sind es | |
von Tschinwali etwa 160 Kilometer, bis zur iranischen 500 bis 700 | |
Kilometer. | |
Schneider findet, die Georgier haben recht, die Besetzung von Südossetien | |
ist illegal. Aber er glaubt auch, die Politik des absoluten | |
Nichtverhandelnwollens in Tiflis schade nicht der russischen Armee oder der | |
südossetischen Regierung, sondern den Menschen, die entlang der Grenze | |
leben. Georgien könne Südossetien nicht anerkennen, aber doch Regelungen | |
aushandeln, die es den Menschen vor Ort einfacher machen, über die Grenze | |
zu kommen. „Wir werden das Problem wohl nicht mehr lösen“, sagt | |
Hans-Heinrich Schneider, „aber wenn du ein bisschen dazu beitragen kannst, | |
dass so ein Gugutischwili vielleicht irgendwann wieder zu seinem Nachbarn | |
jenseits des Zauns kann, das wäre doch etwas.“ | |
Und er selbst? Er wird nach Bonn kommen, nächstes Jahr. Der Garten, das | |
Haus, der Verein, es gibt viel zu tun. „Vielleicht kann ich ja | |
Wahlbeobachter machen“, sagt Hans-Heinrich Schneider, „irgendetwas, bei dem | |
ich nicht andauernd weg bin.“ | |
Der Autor war im Urlaub in Georgien. Eine litauische Kollegin erzählte ihm | |
auf einem Dach in Tiflis von dieser Geschichte. | |
26 Oct 2017 | |
## AUTOREN | |
Daniel Schulz | |
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